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Lagezentrum: Ein Luke Stone Thriller – Buch 3
Jack Mars


Ein Luke Stone Thriller #3
LAGEZENTRUM ist Buch #3 der meistverkauften Luke Stone Thriller Serie, welche mit KOSTE ES, WAS ES WOLLE (Buch #1) einem kostenlosen Download mit Гјber 60 FГјnfsternebewertungen, beginnt!



Ein Hackerangriff auf einen unbedeutenden Staudamm in den Vereinigten Staaten endet mit tausenden Toten und einer Regierung, die sich fragt, wer sie angegriffen hat und warum. Als sie realisiert, dass dies nur die Spitze des Eisbergs war – und dass die Sicherheit von ganz Amerika auf dem Spiel steht – hat die Präsidentin keine andere Wahl, als Luke Stone zu Hilfe zu rufen.



Luke, Leiter eines aufgelösten, elitären FBI Spezialeinsatzkommandos, will den Job nicht annehmen. Aber mit neuen Feinden – sowohl ausländischen, als auch aus den eigenen Reihen – die von allen Seiten näher kommen, ist er der Einzige, dem die Präsidentin vertrauen kann. Was folgt, ist eine aktionsgeladene, internationale Berg- und Talfahrt, während der Luke herausfindet, dass die Terroristen noch raffinierter und weiter entwickelt sind, als irgendwer vermutet hätte und ihr Ziel noch viel weitreichender ist, als man sich vorstellen konnte – und dass ihm nur noch sehr wenig Zeit bleibt, um Amerika zu retten.



Ein Polit-Thriller mit nonstop Aktion, dramatischen internationalen Schauplätzen, unerwarteten Wendungen und atemberaubender Spannung. LAGEZENTRUM ist Buch #3 in der Luke Stone Serie, einer explosiven neuen Serie, die Sie bis tief in die Nacht hinein an sich fesseln wird.



Buch #4 der Luke Stone Serie ist ebenfalls bald erhältlich.





Jack Mars

LAGEZENTRUM




LAGEZENTRUM




(EIN LUKE STONE THRILLER—BUCH 3)




J A C KВ В  M A R S



Jack Mars

Jack Mars ist der USA Today Bestseller Autor der LUKE STONE Thriller-Reihe, welche sieben Bücher umfasst – mit weiteren in Arbeit. Außerdem ist er Autor der neuen WERDEGANG-Reihe, die die Vorgeschichte von Luke Stone erzählt, sowie der Spionage-Thriller Reihe AGENT NULL.



Jack würde sich freuen, von Ihnen zu hören. Besuchen Sie seine Webseite www.jackmarsauthor.com (http://www.jackmarsauthor.com/) und registrieren Sie sich auf seiner E-Mail-Liste, erhalten Sie ein kostenloses Buch und gratis Kundengeschenke. Sie können ihn ebenfalls auf Facebook und Twitter finden und jederzeit mit ihm in Kontakt treten!



Copyright © 2016 by Jack Mars. Alle Rechte vorbehalten. Mit Ausnahme der Bestimmungen des U.S. Copyright Act von 1976 darf kein Teil dieser Publikation ohne vorherige Genehmigung des Autors in irgendeiner Form oder mit irgendwelchen Mitteln vervielfältigt, verbreitet oder übertragen oder in einer Datenbank oder einem Datenabfragesystem gespeichert werden. Dieses eBook ist nur für Ihren persönlichen Gebrauch lizenziert. Dieses eBook darf nicht weiterverkauft oder an andere Personen verschenkt werden. Wenn Sie dieses Buch mit einer anderen Person teilen möchten, erwerben Sie bitte für jeden Empfänger ein zusätzliches Exemplar. Wenn Sie dieses Buch lesen und es nicht gekauft haben, oder es nicht nur für Ihren Gebrauch gekauft wurde, dann geben Sie es bitte zurück und kaufen Sie Ihr eigenes Exemplar. Danke, dass Sie die harte Arbeit dieses Autors respektieren. Diese Geschichte ist frei erfunden. Namen, Charaktere, Unternehmen, Organisationen, Orte, Ereignisse und Vorfälle sind entweder eine Erfindung des Autors oder werden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit zu lebenden oder verstorbenen Personen ist rein zufällig. Abbildung Einband Copyright STILLFX, verwendet mit Lizenz von Shutterstock.com.



BГњCHER VON JACK MARS

LUKE STONE THRILLER SERIE

KOSTE ES WAS ES WOLLE (Buch #1)

AMTSEID (Buch #2)

LAGEZENTRUM (Buch #3)

JEDEM GEGNER ENTGEGENTRETEN (Buch #4)



DER WERDEGANG VON LUKE STONE

PRIMГ„RZIEL (Buch #1)

PRIMГ„RKOMMANDO (Buch #2)



EINE AGENT NULL SPIONAGE-THRILLER SERIE

AGENT NULL (Buch #1)

ZIELOBJEKT NULL (Buch #2)

JAGD AUF NULL (Buch #3)

EINE FALLE FГњR NULL (Buch #4)

AKTE NULL (Buch #5)

RГњCKRUF NULL (Buch #6)

ATTENTГ„TER NULL (Buch #7)

KГ–DER NULL (Buch #8)



EINE AGENT NULL KURZGESCHICHTE







Hören Sie sich die LUKE STONE THRILLER-Serie im Hörbuchformat an!




KAPITEL EINS


15. August

07:07 Uhr

Black-Rock-Damm, Great Smoky Mountains, North Carolina



Der Damm stand dort, unveränderlich, gigantisch, die einzige Konstante in Wes Yardleys Leben. Die anderen, die dort arbeiteten, nannten ihn „Mutter“. Der Damm wurde 1943 auf dem Höhepunkt des Zweiten Weltkrieges zur Erzeugung von Wasserkraft gebaut und war so hoch wie ein fünfzigstöckiges Gebäude. Das Kraftwerk, das den Damm betrieb, war sechs Stockwerke hoch, und hinter ihm ragte Mutter wie eine Festung aus einem mittelalterlichen Albtraum hervor.

Wes begann seine Schicht im Kontrollraum auf dieselbe Weise wie in den letzten dreiunddreißig Jahren: Er setzte sich an den langen halbrunden Schreibtisch, stellte seine Kaffeetasse mit einem Krachen ab und loggte sich in den Computer vor ihm ein. Das tat er automatisch, ohne nachzudenken, noch im Halbschlaf. Er war die einzige Person im Kontrollraum, ein Ort, der so veraltet war, dass er einem Set aus der alten Fernsehshow Space 1999 ähnelte. Er war zuletzt irgendwann in den 1960er Jahren umgebaut worden, und sah auch ganz danach aus, als hätte sich jemand aus diesem Jahrzehnt ausgemalt, wie die Zukunft wohl aussehen könnte. Die Wände waren mit Wählscheiben und Schaltern bedeckt, von denen viele schon seit Jahren nicht mehr berührt worden waren. Es gab dicke Videobildschirme, die niemand jemals eingeschaltet hatte. Fenster suchte man vergeblich.

Der frühe Morgen war normalerweise Wes' Lieblingsteil des Tages. Er hatte etwas Zeit für sich selbst, um seinen Kaffee zu trinken, das Protokoll vom Vorabend durchzugehen, die Zahlen der Stromerzeugung zu überprüfen und dann die Zeitung zu lesen. Oft genug goss er sich eine zweite Tasse Kaffee ein, nachdem er die Hälfte der Sportseiten hinter sich hatte. Er hatte keinen Grund, etwas anderes zu tun, schließlich war hier noch nie etwas passiert.

In den vergangenen Jahren hatte er sich im Rahmen seines Morgenrituals dazu entschlossen, die Jobanzeigen zu lesen. Siebzehn Jahre lang, seit Computer Einzug in den Kontrollraum gehalten hatten und dieser automatisiert wurde, hatten die Genies der Tennessee Valley Authority bereits darüber gesprochen, diesen Damm von einem entfernten Ort aus steuern zu lassen. Bislang war nichts daraus geworden, und so wie es aussah, würde es auch nie etwas werden. Auch Wes� Jobanzeigen waren erfolglos geblieben. Aber er war sowieso vollends zufrieden hier. Er hätte nichts dagegen, eines Tages in einem Sarg hier herausgetragen zu werden. Hoffentlich lag dieser Tag noch in ferner Zukunft. Er griff abwesend nach seiner Kaffeetasse, als er die Berichte vom Vorabend durchblätterte.

Dann sah er auf und alles veränderte sich.

Entlang der Wand gegenüber von ihm blinkten sechs rote Lichter. Es war so lange her, dass er eine Minute brauchte, um sich daran zu erinnern, was diese Lichter überhaupt bedeuteten. Jedes Licht war ein Indikator für eine der Schleusen. Vor elf Jahren, in einer Woche mit sintflutartigen Regenfällen im Norden, hatten sie eine der Schleusen für knapp drei Stunden täglich geöffnet, damit das Wasser, das sich angesammelt hatte, nicht die Wände durchbrach. Eines dieser Lichter hatte die ganze Zeit über geblinkt, während das Tor geöffnet war.

Aber sechs Lichter? Alle zur gleichen Zeit? Das konnte nur bedeuten…

Wes kniff seine Augen zusammen, als ob er die Lichter dadurch besser sehen könnte. „Was zum…?“, sagte er mit leiser Stimme.

Er nahm das Telefon auf dem Schreibtisch und wählte drei Ziffern.

„Wes“, sagte eine schläfrige Stimme. „Wie läuft dein Tag? Hast du das Spiel der Braves gestern Abend gesehen?“

„Vince?“, sagte Wes, ohne auf den Smalltalk einzugehen. „Ich bin gerade im Kontrollraum. Hier blinken Lichter, die mir sagen, dass Schleusen eins bis sechs offen sind. Jetzt gerade, alle sechs. Das ist ein technisches Problem, oder? Irgendein Messgerät oder ein Computerbug, stimmt’s?“

„Die Schleusen sind offen?“, fragte Vince. „Das kann nicht sein. Mir hat niemand was gesagt.“

Wes stand auf und ging langsam auf das Pult zu. Das Telefonkabel zog sich hinter ihm her. Er starrte ehrfürchtig auf die Lichter. Es gab keine Anzeige. Es gab keine Daten, die irgendetwas erklären würden. Nichts. Nur die Lichter, die unisono blinkten, mal schnell, mal langsam, wie ein verrückt gewordener Weihnachtsbaum.

„Nun, das ist es, was ich sehe. Sechs Lichter, alle blinken. Sag mir, dass die Tore nicht wirklich offen sind, Vince.“

Wes realisierte, dass er Vince gar nicht brauchte. Vince holte gerade aus, ihm zu antworten, aber Wes hörte schon nicht mehr zu. Er legte den Hörer auf und ging einen kurzen, schmalen Gang entlang zum Beobachtungsraum. Es fühlte sich an, als bewegten sich seine Beine von alleine.

Im Beobachtungsraum war die gesamte Südwand abgerundet und mit verstärktem Glas verkleidet. Normalerweise blickte er auf einen ruhigen Bach, der vom Gebäude wegfloss, einige hundert Meter weiter rechts abbog und dann im Wald verschwand.

Heute nicht.

An seiner Stelle befand sich ein reiГџender Strom.

Wes stand da, mit offenem Mund, erstarrt, betäubt, ein kaltes Kribbeln breitete sich in seinen Armen aus. Er konnte nicht fassen, was vor ihm geschah. Gischt sprühte 30 Meter in die Luft. Wes konnte den Wald überhaupt nicht sehen. Er hörte ein Geräusch, selbst durch das dicke Glas. Es war das Tosen des Wassers – mehr Wasser, als er sich vorstellen konnte.

Fast vierzig Millionen Liter Wasser pro Minute.

Dieses Geräusch sorgte mehr als alles andere dafür, dass sein Herz schneller schlug.

Wes rannte zurГјck zum Telefon. Er bemerkte selbst, wie atemlos er klingen musste.

„Vince, hör mir zu. Die Tore sind offen! Sie sind alle offen! Wir haben eine 10 Meter hohe und 60 Meter breite Mauer aus Wasser, die da durchkommt! Ich verstehe nicht, was zum Teufel da los ist. Ich weiß nicht, was passiert ist, aber wir müssen sie wieder schließen. SOFORT! Kennst du den Code?“

Vince klang unheimlich ruhig; aber er hatte auch nicht gesehen, was Wes gerade gesehen hatte.

„Ich schaue mal nach“, sagte er.

Wes ging mit dem Hörer in der Hand zum Kontrollpult.

„Komm schon, Vince. Komm schon!“

„Ich mach ja schon“, sagte Vince.

Vince gab ihm eine 6-stellige Zahlenfolge durch, die er Гјber die Tastatur eingab.

Er schaute auf die Lichter und erwartete, dass sie ausgehen wГјrden; aber sie blinkten immer noch.

„Nichts. Bist du sicher, dass das der richtige Code ist?“

„So stehen sie hier. Hast du sie auch richtig eingegeben?“

„Ich habe sie eingegeben, genau wie du sie gesagt hast.“ Wes' Hände begannen zu zittern. Er versuchte, sich selbst zu beruhigen. Erstaunlicherweise klappte das sogar. Er fühlte sich plötzlich, als wäre er ganz weit weg. Er hatte einmal einen nächtlichen Autounfall auf einer verschneiten Bergstraße gehabt, und während sich das Auto um sich selbst drehte und gegen die Leitplanken prallte, hatte Wes sich in diesem Moment sehr ähnlich gefühlt. Es fühlte sich an, als würde er schlafen, als wäre alles nur ein Traum.

Er hatte keine Ahnung, wie lange diese Schleusen schon offen standen, aber sechs Tore auf einmal war eine Menge Wasser, das freigesetzt wurde. Viel zu viel Wasser. So viel Wasser würde das Flussufer überfluten. Es würde eine massive Überschwemmung flussabwärts verursachen. Wes dachte an den riesigen See über ihren Köpfen.

Dann dachte er an etwas anderes, an etwas, das er am liebsten verdrängen würde.

„Drück auf ‚Abbrechen� und versuch es nochmal“, sagte Vince.

„Vince, das Urlaubsresort 5 Kilometer flussabwärts von hier. Es ist August. Weißt du, was das heißt? Es ist Hauptsaison und sie haben keine Ahnung, was auf sie zukommt. Wir müssen diese Tore sofort schließen, oder wir müssen jemanden da unten anrufen. Sie müssen sofort evakuieren.“

„Drück auf ‚Abbrechen� und versuch es nochmal“, wiederholte Vince.

„Vince!“

„Wes, hast du gehört, was ich gerade gesagt habe? Wir kriegen die Tore zu. Wenn nicht, rufe ich in zwei Minuten das Resort an. Drück jetzt auf ‚Abbrechen� und versuch es nochmal.“

Wes tat, was ihm gesagt wurde. Er befürchtete aber, dass es bereits zu spät war.


*

Das Telefon an der Rezeption klingelte ununterbrochen.

Montgomery Jones saß in der Cafeteria des Black Rock Resorts und versuchte, sein Frühstück zu genießen. Es war das gleiche Frühstück, das sie jeden Tag servierten – Rührei, Würstchen, Pfannkuchen, Waffeln – alles, was das Herz begehrte. Heute saß er jedoch an einem Tisch nahe der Lobby, da es trotz der Uhrzeit so voll war. Um ihn herum befanden sich 100 weitere Frühaufsteher, die sämtliche Tische besetzt hatten und über das Essen herfielen. Und das Telefon trug dazu bei, Montys Morgen zu ruinieren.

Er drehte sich um und schaute in die Lobby. Es war ein rustikaler Ort, mit Holzverkleidung, einem Steinkamin und einer ramponierten Rezeption, in die hunderte von Menschen über die Jahre hinweg ihre Namen geritzt hatten. Sie war eine wilde Zusammenstellung aus Initialen, Herzen, längst vergessenen guten Wünschen und halbherzigen Strichmännchen.

Niemand war da, um das Telefon zu beantworten, und wer auch immer am anderen Ende der Leitung war, wollte einfach nicht aufgeben. Jedes Mal, wenn das Telefon aufhörte zu klingeln, dauerte es nur ein paar Sekunden, bis es erneut anfing. Offensichtlich legte der Anrufer also auf, sobald der Anrufbeantworter anging und versuchte es noch einmal. Monty war genervt. Da wollte jemand wohl unbedingt eine Last Minute Reservierung.

„Ruf später wieder an, du Idiot.“

Monty war 69 Jahre alt, und er kam schon seit mindestens 20 Jahren zum Black Rock, oft zwei oder drei Mal im Jahr. Er liebte es hier. Am meisten liebte er es, früh aufzustehen, ein schönes, warmes Frühstück zu genießen und mit seiner Harley Davidson die malerischen Bergstraßen entlangzufahren. Dieses Mal hatte er seine Freundin Lena dabei. Sie war fast dreißig Jahre jünger als er und schlief noch. Sie konnte lange schlafen, seine Lena. Was bedeutete, dass sie heute erst spät ausgehen würden. Aber das war okay. Lena war es wert. Lena war der Beweis für ihn, dass Erfolg sich auszahlte. Er stellte sie sich im Bett vor, ihre langen brünetten Haare auf den Kissen ausgebreitet.

Das Telefon hörte auf zu klingeln. Es vergingen höchstens fünf Sekunden, bevor es wieder anfing.

Das war's. Das reichte jetzt. Monty würde selbst an das verdammte Telefon gehen. Er stand auf und ging mit steifen Beinen zur Rezeption. Er zögerte kurz, bevor er abhob. Der Zeigefinger seiner rechten Hand zeichnete die Schnitzerei eines Herzens mit einem Pfeil in der Mitte nach. Natürlich kam er oft hierher. Aber es war ja nicht so, als würde er hier arbeiten. Er konnte doch nicht so einfach eine Reservierung annehmen oder Nachrichten weiterleiten. Er würde dem Anrufer einfach sagen, er solle es später noch einmal versuchen.

Er nahm den Hörer ab. „Hallo?“

„Hier spricht Vincent Moore von der Tennessee Valley Authority. Ich bin an der Kontrollstation des Black-Rock-Damms, fünf Kilometer nördlich von Ihnen. Dies ist ein Notfall. Wir haben ein Problem mit den Schleusen und bitten um sofortige Evakuierung Ihres Resorts. Ich wiederhole, evakuieren Sie sofort. Eine Flut kommt auf Sie zu.“

„Was?“, fragte Monty. Das musste ein Scherz sein. „Ich verstehe Sie nicht.“

In dem Moment kam in der Cafeteria Unruhe auf. Ein seltsames Stimmengewirr begann zuerst leise, wurde dann jedoch lauter und lauter. Plötzlich fing eine Frau an zu schreien.

Der Mann am Telefon wiederholte sich. „Hier spricht Vincent Moore von der Tennessee Valley…“

Jemand anderes schrie, dieses Mal war es eine Männerstimme.

Monty hielt sich das Telefon ans Ohr, aber er hörte nicht mehr zu. In der Cafeteria standen Leute von ihren Sitzen auf. Einige bewegten sich auf die Türen zu. Dann, mit einem Mal, brach Panik aus.

Menschen rannten, schubsten sich, fielen übereinander. Monty sah gelähmt zu. Eine Menschenmenge kam auf ihn zu, mit großen Augen und offenen Mündern, denen die Angst und der Schrecken ins Gesicht geschrieben stand.

Als Monty durch das Fenster schaute, fegte gerade eine ein bis zwei Meter hohe Wasserwand über das Gelände. Ein Wartungstechniker, der in einem Golfwagen auf einem kleinen Hügel am Haupthaus vorbeifuhr, wurde mit voller Wucht erwischt. Der Wagen kippte um, warf den Mann ins Wasser und landete auf ihm. Der Wagen verfing sich für einen Moment, dann rutschte er auf der Seite den Hügel hinunter, wurde vom Wasser mitgerissen und nahm an Geschwindigkeit zu.

Er rutschte direkt auf die Fenster der Cafeteria zu.

RUMMS!

Der Wagen knallte seitlich gegen das Fenster und zerberstete sie – und ein Wasserstrom folgte ihm.

Er ergoss sich durch das zerschlagene Fenster in die Cafeteria. Der Golfwagen brach hindurch und rutschte durch den Raum. Ein Mann versuchte ihn aufzuhalten, ging jedoch sofort unter und kam nicht wieder hoch.

Überall fielen Menschen in das rasch steigende Wasser, unfähig sich auf den Beinen zu halten. Tische und Stühle rutschten quer durch den Raum und türmten sich an der Wand auf.

Monty eilte hinter die Rezeption. Er blickte auf seine Füße hinunter. Das Wasser stand ihm schon bis zu den Waden. Plötzlich stürzte das gesamte 10 Meter hohe Fenster der Cafeteria ein und die scharfen Glasscherben verteilten sich im gesamten Raum.

Es klang wie eine Explosion.

Monty machte sich bereit, zu rennen. Aber bevor seine Füße ihm gehorchen konnten, bevor er überhaupt über den Schreibtisch krabbeln konnte, konnte er nur noch die Arme heben und schreien, während die Wasserwand ihn verzehrte.




KAPITEL ZWEI


07:35 Uhr

Marine-Observatorium – Washington, DC



Für Susan Hopkins, erste weibliche Präsidentin der Vereinigten Staaten von Amerika, könnte das Leben nicht besser sein. Es war Sommer, also waren Michaela und Lauren nicht in der Schule. Pierre hatte sie hierher gebracht, als sich die Dinge beruhigt hatten, und schließlich war die gesamte Familie in das Neue Weiße Haus eingezogen. Michaela hatte sich von ihrer Entführung erholt, als wäre es ein verrücktes Abenteuer gewesen, das sie sich selbst ausgesucht hatte. Sie hatte sogar eine Runde Talkshows über sich ergehen lassen und zusammen mit Lauren einen Artikel für ein nationales Magazin verfasst.

Susan und Pierre hatten sich besonders Mühe gemacht, sodass Lauren sich nicht ausgeschlossen fühlte. Nach dem ersten TV-Interview bestanden sie darauf, dass die Mädchen die Shows nur noch zusammen machten. Das war auch ganz richtig so – während Michaela in einem fünfzigstöckigem Gebäude voller Terroristen gefangen gewesen war, war Lauren alleine zu Hause geblieben, ganz ohne ihre Zwillingsschwester und beste Freundin.

Manchmal stockte Susan bei dem Gedanken, dass sie fast ihre Tochter verloren hatte, der Atem. Sie wachte ab und zu mitten in der Nacht auf und schnappte nach Luft, als ob ein Dämon auf ihrer Brust säße.

Sie hatte Luke Stone dafür zu danken, dass Michaela heil wieder zurückgekehrt war. Luke Stone hatte sie gerettet. Er und sein Team hatten jeden einzelnen der Kidnapper getötet. Er war ein Mann, den man nur schwer durchschauen konnte. Skrupelloser Killer auf der einen Seite, liebender Vater auf der anderen. Susan war überzeugt, dass er auf dieses Dach gegangen war, nicht weil es sein Job war, sondern weil er seinen eigenen Sohn so sehr liebte, dass er den Gedanken nicht ertragen konnte, dass Susan ihre Tochter verlieren könnte.

In zehn Tagen würde die ganze Familie nach Kalifornien zurückkehren, um sich auf das neue Schuljahr vorzubereiten – nur Susan würde zurückbleiben. Sie würde sie wieder verlieren, aber es war nur ein vorübergehender Verlust, und im Moment war es toll, sie hier zu haben. So großartig, dass sie fast Angst hatte, sich zu sehr daran zu gewöhnen.

„Worüber denkst du nach?“, fragte Pierre.

Sie lagen auf dem großen Bett im Schlafzimmer. Durch die nach Südosten gerichteten Fenster strömte das Morgenlicht herein. Susan lag mit dem Kopf auf seiner nackten Brust und hatte ihren Arm um seine Taille geschlungen. Was machte es schon, dass er schwul war? Er war ihr Mann und der Vater ihrer beiden Töchter. Sie liebte ihn. Sie hatten so viel miteinander erlebt. Jetzt, Sonntagmorgen, war ihre Lieblingszeit.

Ihre Mädchen waren beide Langschläfer. Sie würden bis zum Mittag im Bett bleiben, wenn Pierre und Susan sie schlafen lassen würden. Wenn die Pflicht nicht rufen würde, würde Susan auch am liebsten weiterschlafen. Aber Präsidentin der Vereinigten Staaten zu sein war ein Job, der sieben Tage die Woche vollsten Einsatz von ihr verlangte. Sie hatte nur die wenigen faulen Momente am Sonntagmorgen für sich.

„Ich denke daran, wie glücklich ich bin“, sagte sie. „Zum ersten Mal seit dem sechsten Juni bin ich glücklich. Es ist so schön, euch hier zu haben. Genau wie in alten Zeiten. Und ich habe das Gefühl, nach allem, was passiert ist, gewöhne ich mich endlich an den Gedanken, Präsidentin zu sein. Ich hätte nicht gedacht, dass ich dazu in der Lage wäre, aber ich habe es geschafft.“

„Du bist härter geworden“, sagte Pierre. „Gemeiner.“

„Ist es so schlimm?“, fragte sie.

Er schüttelte den Kopf. „Nein, gar nicht. Du bist erwachsener geworden. Als Vizepräsidentin hast du noch ganz anders gewirkt.“

Susan nickte. „Ich war schon ziemlich mädchenhaft.“

„Oh ja“, sagte er. „Weißt du noch, wie Mademoiselle dich in einer orangefarbenen Yogahose joggen gehen gelassen hat? Ziemlich sexy. Aber du warst Vizepräsidentin der Vereinigten Staaten von Amerika. Das war ein wenig… sagen wir mal informell.“

„Es hat Spaß gemacht, Vizepräsidentin zu sein. Ich habe es wirklich geliebt.“

Er nickte und lachte. „Ich weiß. Ich hab's gesehen.“

„Aber dann hat sich alles verändert.“

„Ja.“

„Und wir können nicht mehr zurück“, sagte sie.

Er sah zu ihr herunter. „Würdest du das denn wollen?“

Sie dachte darüber nach, aber nur für einen Moment. „Wenn all die Menschen noch am Leben wären, die ihr Leben am Mount Weather verloren haben, würde ich Thomas Hayes sofort seinen Job zurückgeben. Aber so nicht. Ich habe noch ein paar Jahre, bevor ich mich entscheiden muss, ob ich noch einmal antreten möchte. Ich habe das Gefühl, dass mich die Leute so langsam unterstützen und mit einer zweiten Amtszeit könnten wir einige großartige Dinge erreichen.“

Er hob die Augenbrauen. „Eine zweite Amtszeit?“

Sie lachte. „Das können wir wann anders besprechen.“

In dem Moment klingelte das Telefon. Susan griff danach und hoffte, es sei nichts Wichtiges.

Leider waren Anrufe fГјr sie immer wichtig.

Es war ihre neue Stabschefin, Kat Lopez. Susan erkannte ihre Stimme sofort. Und vom ersten Moment an gefiel ihr ihr Tonfall nicht.

„Susan?“

„Hi, Kat. Du weißt, dass es Sonntag ist und nicht mal acht Uhr, oder? Sogar Gott hat einen Tag geruht. Du darfst das auch.“

Kats Tonfall war ernst. Kat war eigentlich immer ernst. Als Frau mit spanischen Wurzeln und aus armen Verhältnissen hatte sie sich nach oben gekämpft. Sie hatte sich ihre Position nicht durch bloßes Lächeln erarbeitet, auch wenn Susan das bedauerte. Kat war äußerst kompetent, aber sie war auch sehr schön. Es würde ihr nicht schaden, wenn sie ab und zu lächeln würde.

„Susan, ein großer Damm in einer abgelegenen Gegend im äußersten Westen von North Carolina ist gebrochen. Unsere Analysten sagen, es könnte ein Terroranschlag gewesen sein.“

Susan fühlte ein vertrautes Stechen in ihrer Magengegend. Das war eine Sache an ihrer Arbeit, an die sie sich nie gewöhnen würde. Ein Gefühl, das sie ihrem schlimmsten Feind nicht wünschen würde.

„Opfer?“, fragte sie.

Sie sah den Blick in Pierres Augen. So war es nun mal. Eben noch hatten sie Гјber eine weitere Amtszeit gewitzelt.

„Ja“, sagte Kat.

„Wie viele?“

„Das wissen wir noch nicht. Möglicherweise Hunderte.“

Susan fühlte, wie ihr die Luft entwich, als wäre sie ein Reifen, der gerade aufgeschlitzt worden war.

„Susan, eine Gruppe versammelt sich gerade im Lagezentrum.“

Susan nickte. „Ich bin in einer Viertelstunde unten.“

Sie legte auf. Pierre starrte sie an.

„Ist es schlimm?“, fragte er.

„Es ist doch immer schlimm.“

„Okay“, sagte er. „Mach dein Ding. Ich kümmere mich um die Mädchen.“

Susan war bereits aufgestanden und auf halbem Weg zur Dusche, bevor er zu Ende gesprochen hatte.




KAPITEL DREI


10:23 Uhr

Perpendicular Trail, Southwest Harbor, Acadia National Park, Maine



„Wie geht es dir, Monster?“

„Gut, Dad.“

Luke Stone und sein Sohn, Gunner, bewegten sich langsam die steilen, rauen Stufen des Weges hinauf. Es war ein feuchter Morgen. Schon um diese Uhrzeit war es heiß und es würde noch viel heißer werden. Sie gingen langsam den Berg hinauf, und Luke sorgte dafür, dass sie für häufige Verschnauf- und Trinkpausen anhielten; er war sich bewusst, dass Gunner erst zehn Jahre alt war.

Sie bewegten sich immer höher und höher durch das riesige Geröllfeld. Massiven Steine waren am Berghang aufgeschichtet worden, um eine gewundene, riesige Treppe zu schaffen, als wäre ein nordischer Donnergott vom Himmel herabgekommen und hätte sie mit seinen eigenen Händen gemeißelt. Luke wusste natürlich, dass die Steine von arbeitslosen jungen Männern gelegt worden waren, die das Civilian Conservation Corps etwa achtzig Jahre zuvor in den Tiefen der Großen Depression aus den Städten der Ostküste aufgelesen hatte.

Etwas weiter oben stießen sie auf einige eiserne Sprossen, die in die Steinwand geschraubt waren. Sie kletterten die Leiter hoch und schlängelten sich dann eine eingeritzte Felswand hinauf. Bald flachte der Weg ab und sie wanderten durch dichten Wald, bevor sie einen letzten Aufstieg zum Gipfelausblick machten. Sie kletterten auf die Felsen hinaus.

Direkt vor ihnen war ein steiler Abhang. Es waren bestimmt fГјnfzig Stockwerke hinunter bis zu einem groГџen See, wo sie geparkt hatten. Weiter drauГџen bot der Platz einen herrlichen Blick auf den Atlantischen Ozean, der vielleicht acht Kilometer entfernt lag.

„Was meinst du, Monster?“

Gunner war verschwitzt von der Hitze des Tages. Er setzte sich auf einen Felsen, öffnete seinen Rucksack und zog eine Wasserflasche heraus. Sein schwarzes Dawn of the Dead T-Shirt war schweißgetränkt. Sein blondes Haar war verfilzt. Er nahm einen Schluck aus der Flasche und reichte sie Luke. Er war ein selbstbewusstes Kind.

„Es ist fantastisch, Dad. Es gefällt mir wirklich.“

„Ich möchte dir etwas geben“, sagte Luke. „Ich dachte mir ich warte damit, bis wir hier oben sind. Ich weiß auch nicht, warum. Ich dachte, das wäre eine gute Gelegenheit.“

Gunner sah leicht beunruhigt aus. Er mochte es, Geschenke zu bekommen, aber im Allgemeinen bevorzugte er welche, die er sich auch gewГјnscht hatte.

Luke nahm das Gerät aus seiner Tasche. Es war nur ein kleines Stück schwarzes Plastik, ungefähr die Größe eines Schlüsselanhängers. Es sah nicht besonders aus, wie die Fernbedienung für ein automatisches Garagentor.

„Was ist das?“, fragte Gunner.

„Ein GPS-Gerät. GPS heißt ‚Globales Positionsbestimmungssystem.�“ Luke zeigte auf den Himmel. „Da oben im All gibt es diese Dinger, die heißen Satelliten…“

Gunner lächelte halbherzig. Er schüttelte den Kopf. „Ich weiß, was GPS ist, Dad. Mom hat eins in ihrem Auto. Das ist auch gut so. Sonst würde sie sich an jeder Ecke verfahren. Warum gibst du mir sowas?“

„Siehst du den Clip, der hinten dran ist? Ich möchte, dass du ihn an deinem Rucksack befestigst und überallhin mitnimmst. Ich habe eine App auf meinem Handy, die darauf eingestellt ist, dieses Gerät zu verfolgen. So weiß ich immer, wo du bist, auch wenn wir getrennt sind.“

„Machst du dir Sorgen um mich?“

Luke schüttelte den Kopf. „Nein. Ich mache mir keine Sorgen. Ich weiß, dass du auf dich selbst aufpassen kannst. Wir sehen uns in letzter Zeit nur selten und wenn ich auf meinem Handy sehen kann, wo du bist, ist es fast so, als wäre ich bei dir.“

„Aber ich kann nicht sehen, wo du bist“, sagte Gunner. „Ist das nicht ein bisschen unfair?“

Luke griff in seine Tasche und holte ein weiteres GPS-Gerät heraus, dieses in leuchtendem Blau. „Siehst du das? Ich werde es an meinen Schlüsselbund hängen. Wenn wir zurück im Hotel sind, lade ich die App auf dein Handy, dann weißt du auch immer, wo ich bin.“

Gunner lächelte. „Die Idee gefällt mir, Dad. Aber du weißt, dass wir uns einfach schreiben könnten? Weißt du überhaupt, wie das geht? Ich weiß, dass viele Leute in deinem Alter keine Ahnung von Handys haben.“

Jetzt lächelte Luke. „Ja, keine Sorge. Wir können auch beides tun.“

Für Luke war es ein zwiespältiges Gefühl, mit Gunner hier oben zu sein. Luke war ohne Vater aufgewachsen, und jetzt musste Gunner dasselbe durchmachen. Die Scheidung mit Becca war noch nicht abgeschlossen, aber das Ende war in Sicht. Luke hatte seit zwei Monaten nicht mehr für die Regierung gearbeitet, aber Becca war unnachgiebig gewesen: Sie zog es trotzdem durch.

In der Zwischenzeit hatte Luke zwei Wochenenden im Monat mit Gunner. Er tat alles, was in seiner Macht stand, um sicherzustellen, dass diese Wochenenden voller SpaГџ und Abenteuer waren. Er tat auch alles, was er konnte, um Gunners Fragen unparteiisch, aber optimistisch zu beantworten. Fragen wie diese:

„Glaubst du, wir können so etwas eines Tages mit Mom machen?“

Luke starrte aufs Meer hinaus. Bei solchen Fragen würde er am liebsten die Klippe, die vor ihnen lag, herunterspringen. „Ich hoffe es.“

Gunner wurde selbst bei diesem kleinen Zugeständnis hellhörig. „Wann?“

„Nun, du musst verstehen, dass deine Mutter und ich gerade eine kleine Meinungsverschiedenheit haben.“

„Ich verstehe das nicht“, sagte Gunner. „Ihr liebt euch doch, oder? Und du hast versprochen, deinen Job zu kündigen, richtig? Du hast doch gekündigt?“

Luke nickte. „Ich habe gekündigt.“

„Siehst du. Aber Mom glaubt dir nicht.“

„Ich weiß.“

„Kannst du sie nicht irgendwie überzeugen?“

Luke hatte auf jeden Fall gekГјndigt. Er hatte nicht nur seine KГјndigung eingereicht, sondern war anschlieГџend komplett untergetaucht. Susan Hopkins hatte versprochen, ihn in Ruhe zu lassen, und sie hatte ihr Versprechen auch gehalten. Er hatte sogar keinen Kontakt mehr zu seiner alten Gruppe im Special Response Team.

Er genoss seine Auszeit tatsächlich. Er war zu seinen Wurzeln zurückgekehrt. Er hatte eine Hütte im Adirondack-Gebirge gemietet und zwei Wochen lang fast ausschließlich mit Bogenjagd und Angeln verbracht. Er badete jeden Morgen im See, der hinter seiner Hütte lag. Er ließ sich einen Bart wachsen.

Danach verbrachte er zehn Tage in der Karibik, segelte allein durch St. Vincent und die Grenadinen, schnorchelte mit Meeresschildkröten, Riesenrochen und Riffhaien und besichtigte Schiffswracks, die mehr als hundert Jahre alt waren.

Am Ende jeder kleinen Reise nahm er sich Zeit, um nach Washington, DC zurückzukehren und Gunner für das nächste Vater-Sohn-Abenteuer abzuholen. Luke musste zugeben, dass ihm der Ruhestand gefiel. In einem Jahr, wenn ihm das Geld ausgehen würde, würde es nicht mehr so angenehm sein, aber im Moment war er vollends zufrieden.

„Werdet ihr euch wirklich trennen?“

Luke bemerkte das Zittern in Gunners Stimme, als er diese Frage stellte. Das konnte er nur zu gut verstehen. Gunner hatte Angst. Luke setzte sich mit ihm auf die Felsen.

„Gunner, ich liebe dich und deine Mutter sehr. Die Situation ist kompliziert, und wir arbeiten daran, so gut wir können.“

Das stimmte nicht unbedingt. Becca war kalt zu Luke. Sie wollte die Scheidung. Sie wollte das volle Sorgerecht fГјr Gunner. Sie dachte, Luke sei eine Gefahr fГјr Gunner und sie. Sie hatte praktisch damit gedroht, eine einstweilige VerfГјgung gegen ihn zu erwirken. Sie war unvernГјnftig, und sie und ihre Familie hatten reichlich Geld. Sie konnte einen langen und erbitterten Sorgerechtsstreit bezahlen, wenn es sein musste.

„Willst du mit ihr zusammen sein?“

„Ja, das will ich. Natürlich will ich das.“ Das war die erste Lüge, die Luke Gunner in diesem Gespräch erzählt hatte. Die Wahrheit war kompliziert. Am Anfang hatte er sie noch zurückgewollt. Aber während die Zeit verging und Beccas Position sich verhärtet hatte, wurde er immer unsicherer.

„Warum kommst du dann nicht einfach nach Hause und sagst es ihr? Warum schickst du ihr keine Blumen, bis sie dir vergibt?“

Das war eine gute Frage. Eine Frage, die keine einfache Antwort hatte.

In Lukes Rucksack fing ein Telefon an zu klingeln. Wahrscheinlich war es Becca, die mit Gunner sprechen wollte. Luke griff in den Rucksack, um das Satellitentelefon zu holen, das er immer bei sich trug. Es war fГјr ihn das einzige akzeptable Mittel, um erreichbar zu bleiben. Becca konnte ihn so immer kontaktieren. Aber sie war nicht die Einzige. Es gab noch eine weitere Person, die Zugang zu dieser Nummer hatte.

Er blickte auf das Display. Es war eine Nummer, die er nicht kannte, mit 202er-Vorwahl. Washington, DC.

Sein Herz stockte.

Es war nicht Becca.

„Ist es Mom?“, fragte Gunner.

„Nein.“

„Ist es die Präsidentin?“

Luke nickte. „Ich denke schon.“

„Solltest du dann nicht besser rangehen?“, fragte Gunner.

„Ich arbeite nicht mehr für sie“, sagte Luke. „Weißt du noch?“

Heute Morgen, bevor sie zu dieser Wanderung aufgebrochen waren, hatten sie im Fernsehen Nachrichten über den Dammbruch in North Carolina gesehen. Mehr als hundert bestätigte Tote, hunderte weitere wurden vermisst. Ein ganzes Bergresort wurde vom Wasser weggespült. Die Städte flussabwärts wurden so schnell wie möglich evakuiert und mit Sandsäcken geschützt, aber es gab wahrscheinlich noch mehr Tote.

Das Unglaubliche daran war, dass ein im Jahre 1943 erbauter Damm nach mehr als siebzig Jahren nahezu perfekter Arbeit plötzlich eine Fehlfunktion erleiden würde. Für Luke roch das nach Sabotage. Aber er konnte sich nicht vorstellen, wer es in einer so abgelegenen Gegend auf einen Damm abgesehen haben könnte. Wer würde überhaupt wissen, dass dort ein Damm existierte? Wenn es Sabotage war, dann war es wahrscheinlich ein örtliches Problem, eine Gruppe von militanten Umweltschützern, oder vielleicht sogar ein verärgerter ehemaliger Angestellter, der eine Nummer abgezogen hatte, die schrecklich schief gegangen war und tragische Konsequenzen nach sich trug. Die Staatspolizei oder die FBI-Abteilung für North Carolina würden die Täter wahrscheinlich bereits am Ende des Tages geschnappt haben.

Aber nun klingelte sein Telefon. Also steckte vielleicht doch mehr dahinter.

„Dad, es ist okay. Ich will nicht, dass du deinen Job kündigst, auch wenn Mom anderer Meinung ist.“

„Ist das so? Und wenn ich aufhören will? Darf ich da nicht mitreden?“

Gunner schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht. Ich meine, eine Menge Leute sind bei diesem Unfall gestorben, oder? Was, wenn ich dabei gewesen wäre? Was, wenn Mom und ich unter den Opfern gewesen wären? Würdest du nicht wollen, dass jemand herausfindet, was passiert ist?“

Das Telefon klingelte immer weiter. Als die Mailbox sich einschaltete, hörte das Telefon für einige Sekunden auf zu klingeln, ging aber sofort wieder los. Wer auch immer es war, wollte mit Luke sprechen und keine Nachricht hinterlassen.

Luke dachte an Gunners Worte und drückte den grünen Knopf am Telefon. „Stone.“

„Die Präsidentin der Vereinigten Staaten“, sagte eine Männerstimme.

Es gab einen Moment der Stille, dann erklang ihre Stimme in der Leitung. Sie klang härter als zuvor, etwas älter. Die Ereignisse der letzten Monate würden jeden altern lassen.

„Luke?“

„Hi, Susan.“

"Luke, du musst sofort herkommen.“

„Geht es um den Damm?“

„Ja.“

„Susan, ich bin im Ruhestand, erinnerst du dich?“

Ihre Stimme wurde leiser.

„Luke, der Damm wurde gehackt. Hunderte von Menschen sind tot, und alle Zeichen deuten auf die Chinesen hin. Wir stehen am Rande des Dritten Weltkriegs.“

Luke wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte.

„Wann wirst du hier sein?“, fragte sie.

Er wusste, dass sie ein ‚Nein� nicht akzeptieren würde.




KAPITEL VIER


18:15 Uhr

Marine-Observatorium – Washington, DC



Luke saß auf dem Rücksitz eines schwarzen SUV, als dieser vor der weiß-gegiebelten Residenz aus den 1850er Jahren zum Stillstand kam. Diese Villa war jahrelang die offizielle Unterkunft des Vizepräsidenten gewesen. Da das Weiße Haus zwei Monate zuvor zerstört worden war, diente dieser Ort nun als das Neue Weiße Haus, was passend war, da die Präsidentin fünf Jahre lang hier gelebt hatte, bevor sie ihre neue Rolle übernommen hatte.

In den zwei Monaten, die Luke weg gewesen war, hatte er fast nie über diesen Ort oder die Menschen, die sich hier befanden, nachgedacht. Das Satellitentelefon hatte er auf Wunsch der Präsidentin bei sich, aber die ersten Wochen hatte er ständig in Angst gelebt, tatsächlich einen Anruf zu erhalten. Nach und nach hatte er jedoch fast vergessen, dass er das Telefon überhaupt hatte.

Eine junge Frau kam ihm auf dem Gehweg vor dem Haus entgegen. Sie war brünett, groß und äußerst hübsch. Sie trug einen schlichten schwarzen Rock und eine schwarze Jacke. Ihre Haare waren nach hinten gebunden. In ihrer linken Hand trug sie einen Tablet-Computer. Die andere Hand streckte sie Luke entgegen. Ihr Händedruck war fest und gänzlich geschäftlich.

„Agent Stone? Ich bin Kathryn Lopez, Susans Stabschefin.“

Luke war etwas verblüfft. „Werden Stabschefs heutzutage direkt von der Highscool rekrutiert?“

„Sehr nett von Ihnen“, sagte sie beiläufig. Er wusste, dass sie das ständig zu hören bekommen musste, und die meisten meinten es wahrscheinlich nicht freundlich, so wie er. „Ich bin siebenunddreißig Jahre alt. Ich bin seit dreizehn Jahren in Washington, seit ich meinen Masterabschluss habe. Ich habe für einen Abgeordneten, zwei Senatoren und den ehemaligen Direktor für Gesundheit und Soziales gearbeitet. Ich kenne mich also ein wenig hier aus.“

„Okay“, sagte Luke. „Dann bin ich ja in guten Händen.“

Sie traten durch die Vordertür. Im Inneren standen sie einem Kontrollpunkt mit drei bewaffneten Wachen und einem Metalldetektor gegenüber. Luke nahm seine Glock aus seinem Schulterholster und legte sie auf das Förderband. Er griff nach unten und schnallte die kleine Taschenpistole und das Jagdmesser, das an seine Waden geklebt war, ab und legte diese ebenfalls auf. Zum Schluss nahm er seine Schlüssel aus der Tasche und ließ sie zusammen mit den Waffen auf das Band fallen.

„Entschuldigung“, sagte er. „Ich kann mich nicht erinnern, dass es hier eine Sicherheitskontrolle gab.“

„Gab es auch nicht“, sagte Kat Lopez. „Sie ist erst seit ein paar Wochen hier. Es kommen immer mehr Leute her und wir mussten die Sicherheitsvorkehrungen formalisieren.“

Luke erinnerte sich an die Vorfälle. Als die Angriffe anfingen und Thomas Hayes starb, musste Susan plötzlich das Präsidentsamt übernehmen. Das Weiße Haus war größtenteils zerstört worden und alles – alle Vorkehrungen, die gesamte Logistik – war in dieser Zeit mehr schlecht als recht hastig neu errichtet worden. Es war eine verrückte Zeit gewesen. Er war froh, dass er seitdem frei gehabt hatte. Er bewunderte Susan ein wenig dafür, dass sie die ganze Zeit über selbst vor Ort gewesen war.

Nachdem die Wachen Luke abgetastet und mit einem Metalldetektor ГјberprГјft hatten, gingen er und die Stabschefin weiter.

Es war viel los hier. Das Foyer war überfüllt mit Menschen in Anzügen, Militäruniformen, hochgekrempelten Ärmeln, Menschen, die schnell durch die Gänge eilten und hinter denen sich eine Schar an Helfern herzog. Eines fiel sofort auf – es waren viel mehr Frauen hier als vorher.

„Was ist mit Ihrem Vorgänger passiert?“, fragte Luke. „Der vorherige Stabschef. Richard…“

Kat Lopez nickte. „Richard Monk. Nun, nach dem Ebola-Vorfall waren er und Susan sich einig, dass es ein guter Zeitpunkt für ihn war, weiterzuziehen. Aber obwohl er hier raus ist, ist er auf seinen Füßen gelandet. Er arbeitet als Stabschef für den neuen US-Repräsentanten aus Delaware, Paul Chipman.“

Luke wusste, dass es neue Repräsentanten und Senatoren aus neununddreißig Staaten gab, um diejenigen zu ersetzen, die beim Angriff am Mount Weather gestorben waren. Unzählige Leute waren aus den unteren Ligen plötzlich aufgestiegen oder sind aus dem Ruhestand zurückgekehrt. Mehr als nur ein paar von ihnen waren von Gouverneuren ernannt worden, die fragwürdige Motive oder Gefallen zu erfüllen hatten. Wenn man genau hinsah, konnte man das Schmiergeld an jeder Ecke riechen.

Er lächelte. „Richard arbeitet nicht mehr für die Präsidentin, sondern für den Vertreter des zweitkleinsten Bundesstaates Amerikas? Und das nennen Sie auf den Füßen landen? Klingt für mich, als wäre er auf dem Kopf gelandet.“

„Kein Kommentar“, sagte Kat und lächelte fast. Es war die menschlichste Geste, die er bis jetzt von ihr gesehen hatte. Sie führte ihn durch die Menschenmenge zu einer Doppeltür am Ende der Halle. Luke kannte sich bereits aus. Als Susan Vizepräsidentin gewesen war, war der große, sonnige Raum ihr Konferenzraum gewesen. In den Tagen, nachdem sie ihren Amtseid abgelegt hatte, hatte er sich jedoch schnell in ein notdürftiges Lagezentrum verwandelt.

Nun sah er bereits voll ausgestattet aus. Fertigwände durchzogen den Raum und verdeckten die alten Fenster. Riesige Flachbildschirme waren überall im Abstand von 1,5 Metern montiert. Ein größerer Eichen-Konferenztisch war aufgestellt worden und an der Wand hinter ihm befand sich das Siegel des Präsidenten. Es waren etwa zwei Dutzend Leute hier, als Luke und Kat hereinkamen, ein Dutzend am Konferenztisch und weitere in Stühlen, die die Wände säumten.

Auch hier war der Geschlechter-Wechsel offensichtlich. Luke erinnerte sich, wie er vor zwei Monaten hier gesessen und über die gestohlene Ebola-Probe informiert worden war. Von den dreißig Leuten in dem Raum zu dieser Zeit war Susan die einzige Frau gewesen. Neunundzwanzig große, kräftige Männer und eine kleine Frau.

Heute machten Frauen ungefähr die Hälfte aller Anwesenden aus.

Susan erhob sich, als Luke hereinkam. Auch sie hatte sich verändert. Härter, so wie es aussah. Ein wenig dünner als vorher. In ihrer Jugend war sie Model, doch der Babyspeck auf ihren Wangen hatte sich bis ins mittlere Alter gehalten. Der war jetzt jedoch weg, und sie schien fast über Nacht Krähenfüße um die Augen entwickelt zu haben. Die hellen Augen selbst schienen fokussierter zu sein, wie Laserstrahlen. Sie war ihr gesamtes Leben die schönste Frau im Raum gewesen – nach ihrer Präsidentschaft würde das jedoch vielleicht nicht mehr der Fall sein.

„Agent Stone“, sagte sie. „Ich bin froh, dass Sie sich uns anschließen konnten.“

Er lächelte. „Frau Präsidentin. Ich bitte Sie. Nennen Sie mich Luke.“

Sie erwiderte das Lächeln nicht. „Danke, dass Sie gekommen sind.“

An einem der großen Bildschirme stand Kurt Kimball, Susans nationaler Sicherheitsberater. Luke hatte ihn schon einmal getroffen. Er war groß und hatte breite Schultern. Sein Kopf war völlig kahl.

Kimball bot ihm einen Handschlag an. Wenn Kat Lopez' Handschlag fest war, dann war Kurt Kimballs aus Granit. „Luke, schön, Sie zu sehen.“

„Kurt, ebenfalls.“

Die Stimmung war angespannt. Diese Leute hatten die letzten zwei Monate nicht mit Campen und Segeln verbracht. Trotzdem, Luke war von jetzt auf gleich von Maine hergeflogen und hatte seinen Sohn bei seiner wütenden bald Ex-Frau abgesetzt, die all dies nur als Bestätigung sah, warum sie sich von ihm scheiden ließ. Er hatte einen etwas freundlicheren Empfang erwartet.

Er entschied sich, nicht weiter darauf einzugehen. Hunderte von Menschen waren heute Morgen gestorben und die Menschen in diesem Raum vermuteten einen Terroranschlag.

„Sollen wir zur Sache kommen?“, fragte er.

„Bitte setzen Sie sich“, sagte Kimball.

Ein Sitzplatz an Susans rechter Flanke wurde wie durch ein Wunder frei und Luke nahm ihn dankend an.

Auf dem Bildschirm erschien das Foto eines großen Dammes. Groß war nicht ganz das richtige Wort. Massiv war der bessere Ausdruck. Ein sechsstöckiges Gebäude stand vor dem Damm. Es handelte sich um das Kontrollzentrum. Sechs teilweise offene Schleusen waren deutlich zu sehen. Das Gebäude wurde durch den dahinter aufragenden Damm in den Schatten gestellt. Entlang der Kante befand sich ein Wasserkraftwerk mit einer Reihe von Transformatoren.

„Luke, das ist der Black-Rock-Damm“, sagte Kurt Kimball. „Er ist ungefähr fünfzig Stockwerke hoch und staut den Black Rock See, der 25 Kilometer lang und 120 Meter tief ist und etwa 280 Milliarden Liter Wasser enthält. Wie Sie wahrscheinlich in den Nachrichten gesehen haben, öffneten sich die sechs Schleusen, die Sie hier sehen, heute Morgen kurz nach sieben Uhr vollständig und blieben dreieinhalb Stunden lang offen, bis die Techniker sie vom Computersystem abkoppeln und schließlich manuell schließen konnten.“

Kimball benutzte einen Laserpointer, um auf die Schleusen zu zeigen.

„Wenn Sie die Schleusen im Verhältnis zum Gebäude betrachten, sehen Sie, dass sie ziemlich groß sind. Jede von ihnen ist zehn Meter hoch, was bedeutet, dass sechs dreistöckige Wasserstrahlen auf einmal ausgestoßen wurden. Der Wasserdruck des Black Rock Lake schickte die Flut mit etwa dreißig Kilometern pro Stunde stromabwärts, was sich erstmal nicht so schnell anhört, bis man selbst davorsteht. Bis heute Morgen befand sich fünf Kilometer südlich des Dammes das Black Rock Resort. Es bestand fast ausschließlich aus Holz. Die Flut hat das Resort komplett zerstört und soweit wir wissen, waren die einzigen Überlebenden eine Handvoll Leute, die schon früh aufgebrochen waren, um auf dem Damm zu wandern oder auf nahegelegenen Panoramastraßen zu fahren.“

„Wie viele Leute waren im Resort?“, fragte Luke.



„In ihrem Online-Reservierungssystem waren 281 Gäste aufgeführt. Vielleicht 20 von ihnen haben das Resort entweder vor der Flut verlassen oder sind aus dem einen oder anderen Grund nie dort angekommen. Alle anderen wurden weggefegt und sind aller Wahrscheinlichkeit nach tot. Zusammen mit den anderen Katastrophen flussabwärts wird es noch mehrere Tage dauern, bis wir eine genaue Anzahl von Toten haben.“

Luke verspürte ein seltsames, vertrautes Gefühl. Es kam zurück wie ein alter Freund, den man lange nicht gesehen hatte und von dem man eigentlich gehofft hatte, ihn nie wieder zu treffen. Es fühlte sich an, als wäre ihm schlecht. Es war der Tod, der Tod von Unschuldigen, die einfach nur ihrem eigenen Leben nachgegangen waren. Luke hatte sich viel zu lange mit solchen Vorfällen beschäftigen müssen.

„Hat jemand versucht, sie zu warnen?“, fragte er.

Kimball nickte. „Die Arbeiter im Kontrollzentrum des Staudamms riefen das Resort an, sobald sie merkten, dass die Schleusen geöffnet waren, aber anscheinend hatte die Flut dort bereits Einzug gehalten, als sie jemanden erreicht haben. Jemand nahm ab, aber das Gespräch endete fast sofort.“

„Mein Gott. Und was waren die Katastrophen flussabwärts, die Sie erwähnten?“

Eine Karte erschien auf dem Bildschirm. Sie zeigte den See, den Damm, das Resort und weitere Städte in der Nähe. Kimball zeigte auf eine Stadt. „Die Stadt Sargent liegt weitere 25 Kilometer südlich des Resorts. Es ist eine Stadt mit 2.300 Einwohnern und eine Anlaufstelle für Besucher des Nationalparks. Sargent liegt größtenteils auf einem kleinen Hügel und die Stadt wurde etwas besser gewarnt als das Resort. Sie wurden sogar früh genug gewarnt, dass die Notfallsirenen der Stadt ertönten, bevor die Flut kam. Mit den zusätzlichen 25 Kilometern, die das Wasser bis dahin zurücklegen musste, traf es die Stadt etwas weniger hart, und viele der Häuser und Gebäude hielten stand und wurden nicht weggespült. Mehr als vierhundert Menschen aus Sargent werden jedoch derzeit vermisst oder für tot gehalten.“

Luke starrte auf den Bildschirm, als Kimballs Laserpointer auf die Städte Saphir, Greenwood und Kent fiel, jede etwas weiter vom Damm entfernt als die vorherige, und jede auf ihre eigene Art betroffen. Das Ausmaß der Katastrophe war verheerend, und obwohl die Schleusen inzwischen geschlossen waren, würde die Flut selbst in den nächsten Tagen weiter nach Süden und bergab fließen. Zwei Dutzend Städte waren evakuiert worden, aber weitere Todesfälle waren praktisch garantiert. Einige Menschen in den entlegenen Gebieten wollten oder konnten nicht fliehen.

„Und Sie glauben, dass Hacker dahinterstecken? Wie ist das möglich?“

Kimball blickte sich im Raum um. „Hat jeder hier die Sicherheitsfreigabe, den nächsten Teil zu hören? Können wir bitte jeden rausschmeißen, der keine Freigabe hat?“

Leises Murmeln ging durch den Raum, aber niemand bewegte sich. „Okay, ich gehe davon aus, dass jeder, der hier ist, auch hierhergehört. Wenn nicht, ist das euer Problem. Vergesst das nicht.“

Er wandte sich wieder an Luke.

„Der Damm wurde 1943 gebaut, um während des Krieges dringend benötigten Strom zu erzeugen. Er wurde von der Tennessee Valley Authority erbaut und wird bis heute von ihr betrieben. Die Schleusen werden heute noch mit der gleichen Technologie von damals gesteuert. Jede Fernbedienung für Garagentore ist heutzutage fortgeschrittener. Vor etwa zwanzig Jahren begann die TVA nach Möglichkeiten zu suchen, Geld zu sparen. Sie wollte die Verwaltung ihrer Dämme automatisieren. Kontrollzentren in alten Wasserkraftwerken sind nach modernen Standards unglaublich ineffizient. Es befinden sich rund um die Uhr Mitarbeiter vor Ort, die nichts anderes tun als Logbücher lesen, ausfüllen und von Zeit zu Zeit die Überläufe öffnen und schließen. Die Schleusentore selbst werden fast nie geöffnet.“

„Die TVA dachte, sie könnte zehn oder zwanzig Staudamm-Kontrollzentren zu einem zentralen Kontrollzentrum zusammenfassen. Also rüsteten sie mehrere Dämme mit einer fernsteuerbaren Computersoftware nach. Black Rock war einer von ihnen. Wir sprechen von einer sehr einfachen Software – sie hat nur zwei Zustände, ‚ja� für offen und ‚nein� für geschlossen. Aus irgendeinem Grund haben sie das zentrale Kontrollzentrum jedoch nie fertiggestellt. Die Software war internetbasiert und sie haben sie laufen lassen, für den Fall, dass sie sich doch einmal für den Bau des Zentrums entscheiden sollten. Das Problem an der Sache ist, dass Verschlüsselung damals kaum existierte und die Software nach ihrer Installation nie aktualisiert wurde.“

Luke starrte ihn fassungslos an.

„Sie machen Witze.“

Er schГјttelte den Kopf.

„Es war kinderleicht, dieses System zu kapern. Es hatte nur nie jemand daran gedacht, es zu tun. Welcher Terrorist sollte überhaupt wissen, dass dieser Damm existiert? Er liegt in einer abgelegenen Ecke eines ländlichen Staates. Sargent, North Carolina ist nicht gerade das prestigeträchtigste Ziel. Aber wie wir festgestellt haben, sind die Ergebnisse so verheerend, als hätten sie Chicago oder eine andere Großstadt angegriffen.“

Susan sprach zum ersten Mal. „Und das Schlimmste daran ist, dass es Hunderte solcher Dämme in den USA gibt. Wir wissen nicht einmal, wie viele genau es sind und wie viele von ihnen auf die gleiche Art gehackt werden könnten.“

„Und warum glauben wir, dass die Chinesen es getan haben?“, fragte Luke.

„Unsere eigenen Hacker bei der NSA verfolgten die Infiltration zu einer Reihe von IP-Adressen in Nordchina zurück. Diese Adressen wiederum haben mit einer Internetverbindung in einem Motel in Asheville, North Carolina kommuniziert, hundert Kilometer östlich vom Black-Rock-Damm. Die Kommunikation fand innerhalb von 48 Stunden vor dem Angriff statt. Ein SWAT-Team des Amtes für Alkohol, Tabak und Schusswaffen ist in dieser Region gerade tätig und führt Razzien in nicht lizenzierten Brennereien und Brauereien durch. Dieses Team haben wir zum Motel geschickt, wo sie einen 32-jährigen Chinesen namens Li Quiangguo festnehmen konnten.“

Das Bild eines chinesischen Mannes, der von einer Gruppe großer und breiter ATF-Offiziere aus einem kleinen, unscheinbaren Motel geführt wird, erschien auf dem Bildschirm. Ein weiteres Bild erschien daneben. Es war der gleiche Mann, wie er auf einer schmalen Straße gegenüber eines Stausees steht. Er stand vor einer historischen Tafel mit der Aufschrift Black-Rock-Damm – 1943, und einer kurzen Beschreibung darunter.

„Obwohl seine Reisedokumente und sein Pass echt aussehen, glauben wir nicht, dass das sein wirklicher Name ist. Wie Sie wissen, ist die Namensreihenfolge in China umgekehrt – zuerst kommt der Nachname, gefolgt vom Vornamen. Li ist einer der häufigsten Namen in China, so wie Smith hier bei uns. Und Quiangguo bedeutet auf Mandarin so viel wie starke Nation. Ein Name mit militaristischer Konnotation, der nach der chinesischen Revolution sehr verbreitet war. Aber seit ungefähr 40 Jahren benutzt ihn so gut wie niemand mehr. Außerdem wurden bei Li eine Handfeuerwaffe und ein kleines Fläschchen mit Zyanid-Pillen gefunden. Wir glauben, dass er ein chinesischer Spion ist, der unter einem Decknamen operiert und sich umbringen sollte, falls er geschnappt wird.“

„Aber scheinbar hat er kalte Füße bekommen“, sagte Luke.

„Entweder das, oder er ist nicht rechtzeitig an seine Pillen gekommen.“

Luke schüttelte den Kopf. „Nach einer Operation wie dieser würde ein Agent, der sich tatsächlich umbringen will, die Pillenflasche ständig in der Hand halten oder sie zumindest in der Tasche haben. Was genau hat er nach China geschickt?“

„Eine Reihe von verschlüsselten E-Mails. Wir haben die Verschlüsselung noch nicht geknackt und es könnte auch noch Wochen dauern. Die NSA hat uns mitgeteilt, dass sie so eine Verschlüsselung noch nie gesehen haben. Sehr komplex, sehr schwer zu entschlüsseln. Also haben wir im Moment keine Ahnung, was der Inhalt der E-Mails ist.“

„Hat er gestanden?“, fragte Luke.

Kimball schüttelte den Kopf. „Er wird in einer Hütte in einem FEMA-Gefangenenlager in Nord-Georgia festgehalten, etwa hundertfünfzig Kilometer südöstlich des Damms. Er besteht darauf, dass er einfach ein Tourist ist, der zur falschen Zeit am falschen Ort war.“

„Deshalb haben wir Sie angerufen“, sagte Susan. „Wir möchten, dass Sie sich mit ihm unterhalten. Wir dachten, mit Ihnen würde er reden.“

„Mit ihm unterhalten, wie?“, sagte Luke.

Susan zuckte die Achseln. „Ja.“

„Ich soll ihn zum Reden bringen?“

„Ja.“

„Dafür brauche ich wahrscheinlich mein Team“, sagte Luke.

Susan, Kurt Kimball und Kat Lopez sahen einander an.

„Vielleicht sollten wir das lieber unter vier Augen besprechen“, sagte Kimball.


*

„Okay, Susan, jetzt kommt der Teil, wo du mir wieder sagst, dass das Special Response Team aufgelöst wurde, richtig?“

„Luke…“, begann sie.

Sie saГџen oben in Susans Arbeitszimmer. Das Arbeitszimmer war genau so, wie Luke es in Erinnerung hatte. Ein groГџer rechteckiger Raum mit Hartholzboden und einem weiГџen Teppich in der Mitte. Der Teppich diente als Mittelpunkt fГјr eine Sitzecke mit groГџen, bequemen, aufrechten StГјhlen und einem Couchtisch.

An einer Wand des Arbeitszimmers war ein raumhohes BГјcherregal. Das BГјcherregal erinnerte Luke an The Great Gatsby.

Und dann waren da noch die Fenster. Riesige, anmutige, vom Boden bis zur Decke reichende Fenster, die eine großartige Aussicht auf das weitläufige Gelände des Marine-Observatoriums ermöglichten. Die Fenster waren nach Südwesten ausgerichtet und ließen das Tageslicht herein.

Die Tage wurden deutlich kürzer. Obwohl es noch nicht einmal 19 Uhr war, ließ das Sonnenlicht bereits nach. Der Tag ging zu Ende. Luke dachte noch einmal kurz an sein Gespräch mit Becca, als er Gunner abgesetzt hatte. Er schüttelte die Erinnerung schnell ab. Jetzt war nicht die Zeit, darüber nachzudenken.

Er saß auf der der Präsidentin gegenüberliegenden Seite des Couchtisches. Kurt Kimball saß zwischen den beiden. Kat Lopez stand hinter Susan, etwas rechts von ihr.

„Ja“, sagte Susan. „Das Special Response Team gibt es nicht mehr. Die meisten der ehemaligen Mitarbeiter wurden an andere Positionen innerhalb des FBI versetzt. Das, was Sie als Ihr ehemaliges Team betrachten, ist nicht mehr wiederherzustellen.“

„Susan“, sagte Luke. „Ich möchte Sie daran erinnern, dass Sie mich wieder aus dem Ruhestand holen wollen. Wissen Sie, was ich in den letzten zwei Monaten getan habe? Ich werde es Ihnen sagen. Campen, angeln, wandern, segeln. Ein bisschen jagen. Ein bisschen tauchen.“ Er rieb sich den Bart. „Ausschlafen.“

„Sie sind also ausgeruht und damit diensttauglich“, sagte Kurt Kimball.

Luke schüttelte den Kopf. „Ich bin total eingerostet. Ich brauche mein Team. Ich vertraue ihnen. Ohne sie kann ich nicht wirklich funktionieren.“

„Luke, wenn Sie einfach geblieben wären, anstatt zu verschwinden, wären Sie jetzt vielleicht Chef einer kleinen Behörde…“

„Ich habe versucht, meine Ehe zu retten“, sagte er trocken.

Susan starrte ihn direkt an. „Wie ist es gelaufen?“

Er schüttelte den Kopf. „Bislang nicht allzu gut.“

„Es tut mir leid, das zu hören.“

„Mir auch.“

Susan blickte hinter sich. „Kat, können wir den Status von Lukes ehemaligen Teammitgliedern erfahren?“

Kat Lopez blickte auf das Tablet in ihrer Hand. „Sicher. Mark Swann verließ das FBI für einen Job bei der National Security Agency. Er arbeitet in ihrem Hauptquartier hier in DC. Er ist seit dreieinhalb Wochen dort. Es wird noch ungefähr einen Monat dauern, bis er die nötige Sicherheitsfreigabe hat, dann wird er mit dem PRISM Data Mining Projekt anfangen können.“

„Edward Newsam ist immer noch beim FBI. Er war fast den ganzen Juni und Juli krankgeschrieben. Seine Hüftrehabilitation ist abgeschlossen und er wurde inzwischen dem Geiselrettungsteam zugeteilt. Er befindet sich derzeit in Quantico in Ausbildung für eine mögliche Arbeit beim Auslandsgeheimdienst, die im Laufe des Jahres beginnen soll. In seiner Akte steht ein Vermerk, dass die Details seiner Anstellung wahrscheinlich innerhalb der nächsten Wochen als Top Secret eingestuft werden. Ab diesem Zeitpunkt ist alles streng geheim, wenn es um seinen Status und seinen aktuellen Aufenhtaltsort geht.“

Luke nickte. Beides war keine große Überraschung. Swann und Newsam gehörten zu den Besten in ihrem Fach. „Können wir sie ausleihen?“, fragte er.

Kat Lopez nickte. „Wenn wir sie anfordern, werden die Behörden unserer Bitte nachkommen.“

„Und Trudy?“, fragte Luke. „Sie brauche ich auch.“

„Luke, Trudy Wellington ist im Gefängnis“, sagte Susan.

Luke fühlte sich, als hätte ihm jemand in den Magen geschlagen. Er starrte ganze fünf Sekunden lang in den Raum und versuchte, diese Worte zu verarbeiten.

„Was?“, sagte er schließlich.

Susan schГјttelte den Kopf.

„Ich kann nicht glauben, dass Sie das nicht wissen. Was haben Sie gemacht, sich unter einem Stein versteckt? Lesen Sie keine Zeitung?“

Er zuckte die Achseln. „Ich habe Ihnen gesagt, was ich die letzten Monate getan habe. Ich war untergetaucht. Dort wo ich war, gab es keine Zeitungen und den Computer habe ich zu Hause gelassen.“

Kat Lopez las von ihrem Tablet ab. Ihre Stimme klang mechanisch, fast schon roboterhaft.

„Trudy Wellington, 30 Jahre alt, war mindestens ein Jahr lang Don Morris' Geliebte während der Planung der Anschläge vom 6. Juni. E-Mail-, Telefon-, SMS- und Computeraufzeichnungen deuten darauf hin, dass sie bereits im vergangenen März von dem Plan wusste, den Präsidenten sowie die Vizepräsidentin der Vereinigten Staaten von Amerika zu ermorden, und wer die Attentäter waren. Sie wurde wegen Verrat, Verabredung zum Verrat, Veraredung zum Mord in mehr als dreihundert Fällen, sowie wegen einer Reihe anderer Vergehen angeklagt. Momentan befindet sie sich ohne Kaution im Frauengefängnis in Randal, Maryland. Wenn sie verurteilt wird, drohen ihr eine lebenslange Haftstrafe oder sogar die Todesstrafe.“

Luke fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Die Nachricht traf ihn wie ein Schlag auf den Kopf. Er dachte an Trudy, stellte sie sich mit ihrer merkwürdigen roten Brille vor, wie ihre Augen über den Bildschirm ihres Tablet-Computers huschten. Er dachte daran, wie er um 3 Uhr morgens in ihre Wohnung gekommen war, wie sie die Tür geöffnet hatte und nichts anhatte als ein langes, dünnes T-Shirt und die Pistole in ihrer Hand. Er dachte daran, wie ihre Haut sich in dieser Nacht auf seiner angefühlt hatte.

Sie war im Gefängnis? Das konnte nicht sein.

„Trudy Wellington steht die Todesstrafe bevor?“, wiederholte er.

„Kurz gesagt, ja.“

„Und das nur, weil sie Don nicht angezeigt hat?“

Susan schüttelte den Kopf. „Es ist Verrat, egal wie man es dreht oder wendet. Eine Menge Leute sind gestorben, einschließlich Thomas Hayes, der nicht nur der Präsident, sondern auch ein guter Freund war. Wellington hätte es möglicherweise verhindern können, aber sie entschied sich dagegen. Sie entschied sich, es nicht einmal zu versuchen. Die einzige Möglichkeit, wie sie sich noch retten könnte, wäre, gegen die Täter auszusagen.“

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie davon wusste“, sagte Luke. „Hat sie gestanden?“

„Sie leugnet alles“, sagte Kat Lopez.

„Ich würde dazu neigen, ihr zu glauben“, sagte Luke.

Kat hielt ihm ihr Tablet hin. „Es gibt etwa zweihundert Seiten Beweise. Wir haben Zugang zu den meisten davon. Lesen Sie sie sich gerne durch. Vielleicht denken Sie danach anders darüber.“

Luke schüttelte den Kopf. Er sah Susan an. „Und was bedeutet das für uns?“

Sie zuckte die Achseln. „Mark Swann und Ed Newsam können Sie für ein paar Tage haben, wenn Sie sie brauchen. Aber Trudy Wellington auf keinen Fall.“

Sie sah ihn an.

„Der Hubschrauber fliegt in einer Stunde.“




KAPITEL FГњNF


16. August

07:15 Uhr

Black-Rock-Damm, Great Smoky Mountains, North Carolina



Von Lukes Fenster aus war nichts Ungewöhnliches zu erkennen, als der elegante schwarze Hubschrauber tief über den Damm flog. Sie befanden sich über dem Black Rock Lake, der lang und malerisch unter ihnen lag und auf allen Seiten von dichter grüner Wildnis und steilen Hängen umgeben war. Eine schmale Fahrbahn erstreckte sich an einer Seite des Damms. Sie flogen an ihr vorbei und sahen den fünfzig Stockwerke hohen Abgrund, an dessen unterem Ende sich das Kraftwerk und die Schleusen befanden. Die Schleusentore schienen normal zu funktionieren. Nicht mehr als ein kleines Rinnsal floss aus ihnen heraus. Über eine Strecke von etwa 500 Metern spannten sich Stromtransformatoren, ein Spinnennetz aus Stahltürmen und Hochspannungsdrähten vom Damm weg. Sie schienen ebenfalls intakt zu sein.

„Es gibt nicht viel zu sehen“, sagte er in sein Headset.

Zu seiner Linken saß der große Ed Newsam und starrte aus dem Fenster auf der gegenüberliegenden Seite. Eds gebrochene Hüfte war geflickt, und es sah aus, als hätte er viel Zeit im Kraftraum verbracht. Seine ohnehin schon dicken Arme waren noch größer, als Luke sie in Erinnerung hatte, seine Brust und Schultern waren noch breiter, seine Beine sahen noch mehr aus wie Eichenstämme. Er trug Jeans, Arbeitsstiefel und ein einfaches blaues T-Shirt.

Im Sitz hinter ihnen saß Mark Swann. Er war groß und schlank, seine schlaksigen Beine waren ausgestreckt, seine Chuck-Taylor-Sneakers nur wenige Zentimeter von Lukes eigenen Füßen entfernt. Seine sandfarbenen Haare waren länger als zuvor und zu einem Pferdeschwanz gebunden, und er hatte irgendwann in den letzten zwei Monaten seine Fliegerbrille gegen eine runde John-Lennon-Brille getauscht. Er trug ein schwarzes T-Shirt mit dem Logo der Punkrock-Band The Ramones.

„Das Wasser läuft durch die Schleusen, genau wie es soll“, sagte der Hubschrauberpilot. Er war ein Mann mittleren Alters und trug eine schwarze Nylonjacke mit den Großbuchstaben FEMA in Weiß auf dem Rücken. „Es gab keine Schäden am Damm oder an den Einrichtungen und auch vom Dammpersonal ist niemand zu Schaden gekommen. Das einzige, was hier passiert ist, war, dass die Zufahrtsstraße weggespült wurde. Etwa fünf Kilometer südlich beginnt die eigentliche Katastrophe.“

Sie waren mit einem Secret Service Jet von Washington, DC aus zu einem kleinen städtischen Flughafen am Rande des Nationalparks geflogen. Sie waren kurz vor Sonnenaufgang angekommen, und der Hubschrauber hatte bereits auf sie gewartet. Auf dem Flug selbst hatten sie nicht viel geredet. Die Stimmung war angesichts der Umstände düster und Trudy Wellington als Geheimdienstlerin hätte normalerweise den größten Teil des Gesprächs geführt. Susan hatte Luke einen Ersatz angeboten, aber Luke hatte abgelehnt. Ihre Aufgabe war es sowieso, Informationen von ihrem Gefangenen zu erhalten. Sicher konnte er ihnen alles erzählen, was sie wissen mussten.

Luke wusste, dass sie alle gleichermaßen von Trudys Verlust betroffen und schockiert über ihren Verrat waren. Er wusste auch, oder vermutete es zumindest, dass seine ehemaligen Teammitglieder mit diesem Kapitel ihres Lebens abgeschlossen hatten. Sie alle hatten neue Aufgaben, neue Herausforderungen, neue Kollegen, auf die man sich freuen konnte. In zwei Monaten hatte sich viel geändert.

Das Special Response Team existierte nicht mehr. Luke hätte es bestimmt in irgendeiner Form retten können – nach dem Putschversuch und den Ebola-Angriffen hätte er den Erfolg genießen und das Team ausbauen können – aber er hatte sich dagegen entschieden. Jetzt war das SRT Vergangenheit und Luke Stones Rolle selbst ebenfalls. Er hatte sich zur Ruhe gesetzt. Nicht nur das, er war komplett untergetaucht und hatte sich nicht gerade Mühe gegeben, in Kontakt zu bleiben. Der Zusammenhalt eines Teams war ein wichtiger Bestandteil im Geheimdienst und unter Sondereinsatzkräften wie ihnen. Ohne Kontakt gab es keinen Zusammenhalt.

Was bedeutete, dass es im Moment auch kein Team gab.

Der Hubschrauber machte eine Kurve und flog nach Süden. Fast sofort wurde die Verwüstung deutlich. Das gesamte Gebiet unterhalb des Dammes war überflutet. Überall waren große Bäume ausgerissen und wie Streichhölzer herumgeschleudert worden. In wenigen Minuten erreichten sie das Gelände des ehemaligen Black Rock Resorts. Teile des Obergeschosses des Hauptgebäudes waren noch intakt und ragten aus dem Hochwasser heraus. Autos stapelten sich an der Außenwand des zerstörten Hotels, zusammen mit weiteren Bäumen, von denen einige ihre Äste zum Himmel streckten, wie Gläubige, die Gott um ein Wunder anflehen.

Die Autos, die Bäume und das Treibgut hatten sich zu einem Minidamm ineinandergeschoben, hinter dem sich ein breiter See gebildet hatte. Etwa ein Dutzend Zodiacs waren am Rande dieses Sees geparkt. Taucherteams in voller Montur bereiteten sich in mehreren Booten auf ihren Einsatz vor.

„Haben sie hier Überlebende gefunden?“, fragte Luke.

Der Pilot schüttelte den Kopf. „Keinen einzigen. Zumindest nach dem Stand heute Morgen. Allerdings fand man etwa hundert Leichen in der Cafeteria des Resorts. Sie bringen sie eine nach der anderen hoch. Ich glaube, sie haben noch nicht mit der Suche in den Zimmern begonnen. Vielleicht warten sie damit sogar, bis das Wasser abgesackt ist. Sich unter Wasser durch die Gänge zu bewegen ist gefährliche Arbeit und wahrscheinlich unnötig. Da unten lebt eh niemand mehr.“

Ed Newsam, der in seiner entspannten Art ausgestreckt dasaß, streckte sich und richtete sich nur einen Hauch auf. „Woher wollen Sie das wissen? Es könnte noch Luftblasen geben. Da unten könnten immer noch Leute sein, die auf Rettung warten.“

„Sie haben Unterwasser-Abhörgeräte auf den Booten“, sagte der Pilot. „Wenn da tatsächlich noch jemand am Leben ist, hat er gestern den ganzen Tag über keinen Mucks von sich gegeben.“

„Wenn ich das Sagen hätte, würden meine besten Taucher Raum für Raum durchgehen. Dass die Leute in der Cafeteria tot sind, wissen wir bereits. Und die Taucher wussten, dass ihr Job gefährlich ist. Die Zivilisten im Resort hatten jedoch keine Ahnung, was auf sie zukommt.“

Der Pilot zuckte die Achseln. „Wie dem auch sei, sie arbeiten so schnell sie können.“

Der Hubschrauber zog weiter nach Süden. Die Flut hatte eine Schneise durch das Tal geschnitten. Es sah aus, als wäre ein Riese durch den Wald gestapft und hätte die Bäume herausgerissen. Überall war Wasser. Das ursprüngliche Flussbett war nicht mehr zu erkennen.

Sie überquerten die Stadt Sargent, die immer noch mindestens zwei Meter hoch überschwemmt war. Die Verwüstung hier war allerdings nicht so verheerend. Es gab eine Menge leerer Grundstücke, wo vorher Häuser gestanden haben mussten – an anderen Ecken ragten Gebäude und Fastfood-Schilder noch wie Finger aus dem Wasser. Der Hubschrauber flog über ein Betongebäude, an dem sich ein Stapel von Autos und Geländewagen türmte. HONEST ABE'S GEBRAUCHTWAGEN besagte ein Schild, das halb aus dem Wasser ragte. Eines seiner Stützbalken war eingestürzt.

„Wie viele Tote gab es hier?“, fragte Luke.

„Fünfhundert“, sagte der Pilot. „Plus/minus ein paar Zerquetschte. Es fehlen immer noch 100 Menschen oder mehr. Es war früh am Morgen, und es gab keine große Vorwarnung. Viele Leute wurden noch in ihren Häusern weggefegt. Man liegt ruhig im Bett und auf einmal geht das alte Luftangriffssignal aus Zeiten des Kalten Kriegs los, was macht man da? Viele flohen anscheinend in ihre Keller. Das ist nicht gerade der Ort, an dem man sein sollte, wenn eine Flut kommt.“

„Niemand hat damit gerechnet, dass der Damm bricht?“, fragte Swann. Es war das erste, was er gesagt hatte, seit sie in den Hubschrauber gestiegen waren.

Der Pilot war mit seiner Steuerung beschäftigt. „Warum sollten man auch? Der Damm ist schließlich auch nicht gebrochen. Er wurde gebaut, um 1000 Jahre lang standzuhalten.“

„Okay“, sagte Luke. „Ich habe genug gesehen. Lasst uns mit dem Gefangenen reden.“


*

08:30 Uhr

Chattahoochee National Forest, Georgia



Das Lager erschien aus dem tiefen Wald wie eine Fata Morgana.

„Hübsch ist es ja nicht gerade“, sagte Ed Newsam.

Inmitten des Dunkelgrün des umliegenden Walds lag ein perfektes braun-graues Quadrat mit einer Seitenlänge von einem Kilometer. Als der Hubschrauber näher kam, konnte Luke Dutzende von Baracken ausmachen, die Reihe an Reihe standen, sowie ein großes, quadratisches Wasserreservoir in der Mitte des Lagers. Nebengebäude umgaben das Reservoir, das mit einem stählernen Laufsteg überquert werden konnte.

Der Hubschrauber begann seinen Landeanflug und Luke konnte zusehen, wie sich der Hubschrauberlandeplatz näherte. Er befand sich in einem Bereich in der äußersten westlichen Ecke des Lagers, mit einigen großen Verwaltungsgebäuden, einem Schwimmbad und ein paar Parkplätzen. Er konnte nun deutlich Betonflächen, eine Zufahrtsstraße, Straßen innerhalb des Lagers und eine Mauer mit Stacheldraht und Wachtürmen um den Rand des Lagers erkennen. Der Ort war wie eine offene Wunde inmitten des Waldes.

„Was ist das für ein Ort?“, fragte Luke in sein Headset.

Der Hubschrauberpilot war mit der Landung beschäftigt, aber nicht zu beschäftigt, um zu antworten. „Ich habe gehört, es heißt Camp Enduring Freedom“, sagte er. „Die Leute hier neigen dazu, es Camp Nirgendwo zu nennen. Offiziell gehört es zu uns, der Bundesagentur für Notfalleinsätze. Sie werden es auf keiner Karte finden. Ich schätze, es gibt keinen offiziellen Namen.“

„Also existiert es nicht?“, fragte Luke.

Der Hubschrauber flog jetzt tief, die grauen Gebäude des Lagers ragten um sie herum auf. Luke bemerkte, dass sich an den Gebäuden mit Stahldrähten verstärktes Glas befand.

Der Pilot schüttelte den Kopf lächelnd. „Was existiert nicht? Ich sehe hier nur unbewohnte Wildnis. Hier gibt es nichts als Wald.“

Ein Flugeinweiser in einer gelben Weste stand mit leuchtend orangefarbenen Stäben in der Hand seitlich des Hubschrauberlandeplatzes und winkte ihnen zu. Der Pilot setzte den Hubschrauber perfekt in der Mitte des Landeplatzes ab. Er schaltete den Motor ab und die Rotoren begannen sich sofort unter lautem Heulen zu verlangsamen.

„Wenn Sie den Chinesen sehen“, sagte der Pilot, „verpassen Sie ihm ein paar von mir.“

„So was machen wir nicht“, sagte Luke.

Der Pilot drehte sich um und lächelte. „Natürlich nicht. Ich fliege ständig Leute an solche Orte und zurück. Ich muss Leute wie Sie nur ansehen und weiß, wofür Sie hier sind, glauben Sie mir. Ein Blick hat mir gereicht und mir war klar, dass es für den Kerl langsam brenzlig wird.“

Er, Swann und Ed verließen den Hubschrauber mit eingezogenen Köpfen. Ein Mann wartete bereits auf dem Landeplatz, um sie zu begrüßen. Er trug einen grauen Geschäftsanzug und eine blaue Krawatte. Seine Haare wurden von den langsamen Rotorblättern des Hubschraubers umhergeblasen. Der Stoff seines Anzugs kräuselte sich. Seine schwarzen Schuhe waren auf Hochglanz poliert. Er sah aus, als sei er gerade aus einem Pendlerzug in Manhattan gestiegen. Er war so fehl am Platz, wie es nur möglich war.

Als Luke näher kam, betrachtete er sein Gesicht näher. Sein Alter war schwer zu schätzen – weder alt, noch jung, irgendetwas dazwischen. Er streckte seine Hand aus. Luke schüttelte sie.

„Agent Stone? Ich bin Pete Winn. Man sagte mir, die Präsidentin hätte Sie geschickt. Danke, dass Sie uns besuchen kommen.“

„Danke, Pete. Bitte nennen Sie mich Luke.“

Luke, Ed und Swann folgten Pete Winn vom Hubschrauber weg zu einer geriffelten Aluminiumhütte auf der anderen Seite des Platzes. Sogar der Hubschrauberlandeplatz war von Stacheldrahtzäunen umgeben. Der einzige Weg zum oder vom Hubschrauberlandeplatz war durch dieses Gebäude. Die Türen zum Gebäude waren kameragesteuert. Sie öffneten sich automatisch, als sich die Männer näherten.

„Was ist das hier für ein Ort?“, fragte Luke.

„Sie meinen unser bescheidenes Lager?“, fragte Winn.

„Ja.“

„Ah, nun ja. Lassen Sie mich Ihnen die Kurzpräsentation geben. Im Grunde ist es ein Internierungslager. Wir haben im Moment etwas über 250 Gefangene, darunter mehr als 70 Kinder. Die meisten sind illegale Einwanderer aus Mexiko und Mittelamerika, deren Leben durch Drogenkartelle oder kriminelle Banden gefährdet wäre, wenn sie nach Hause geschickt werden würden. Sie haben kein Asyl, also bleiben sie hier bei ihren Familien, bis die Einwanderungs- und Einbürgerungsbehörde entscheidet, was mit ihnen geschehen soll. Ihr Immigrationsstatus ist offiziell unbestimmt. Da dieser Ort quasi unsichtbar ist, haben die Banden keine Ahnung, wo sie sind.“

Sie gingen schnell durch das Gebäude. Es war im Grunde ein Pausenraum für Fluglotsen, Signalgeber und Piloten. Es gab ein paar Tische und Stühle, einige Funk- und Videoüberwachungsgeräte, einen Radarschirm, eine Kaffeemaschine und eine alte Schachtel mit abgestandenen Donuts auf dem Tisch.

„Also sitzen sie hier fest?“, fragte Swann.

„Nun ja, festsitzen ist etwas stark ausgedrückt“, sagte Winn. „Aber ja, die Familie, die am längsten hier ist, ist bereits seit sieben Jahren hier.“

Winn bemerkte ihre Blicke.

„Es ist nicht so schlimm, wie es sich anhört. Wirklich nicht. Alle Kinder gehen fünf Tage in der Woche zur Schule. Die Schule ist gleich hier auf dem Gelände. Es gibt jede Menge Aktivitäten, darunter zwei neue Filme an jedem Wochenende, die sowohl auf Englisch als auch auf Spanisch gezeigt werden. Es gibt Fußball und Basketball, und die Erwachsenen können Sprachunterricht und Berufstraining nehmen, zum Beispiel bei den Tischlermeistern, die wir hierher bringen.“

„Hört sich ja toll an“, sagte Swann. „Macht es euch was aus, wenn ich meinen Urlaub hier verbringe?“

„Sie wären überrascht“, sagte Winn. „Den Leuten gefällt es hier. Es ist viel besser, als nach Hause zu gehen und ermordet zu werden.“

Ein schwarzer Geländewagen wartete vor der Hütte auf sie. Sie fuhren durch das Lager und passierten einen weiteren Zaun, der mit Stacheldraht versehen war. Eine Handvoll Männer saßen auf Bänken auf der anderen Seite. Vier oder fünf von ihnen waren Weiße. Ein paar von ihnen waren schwarz. Sie trugen alle hellgelbe Overalls. Sie starrten durch den Zaun auf das vorbeifahrende Auto.

„Diese Typen sehen nicht wie Mexikaner aus“, sagte Ed Newsam.

Pete Winns Gesicht begann sich zu verändern. Zuvor war es freundlich, vielleicht sogar etwas nervös gewesen, Luke und sein Team zu treffen. Jetzt schien es fast abweisend.

„Nein, das tun sie nicht“, sagte er. „Wir haben hier auch ein paar waschechte Amerikaner.“

„Verstecken sie sich vor den Kartellen?“, fragte Swann,

Winn starrte geradeaus. „Meine Herren, ich bin sicher, es gibt Aspekte Ihrer Arbeit, die Sie nicht diskutieren dürfen. Das gilt auch für mich.“

Nach einigen Minuten waren sie am Hubschrauberlandeplatz und den Verwaltungsgebäuden vorbei auf die andere Seite des Lagers gefahren. Der Wagen hielt an. Es war niemand in der Nähe – keine Häftlinge, keine Arbeiter, überhaupt niemand. Eine kleine Hütte stand allein auf einem einsamen Stück Gelände.

Die Männer stiegen aus. Der Boden war unfruchtbare, harte Erde. Jegliches Gefühl von Geschäftigkeit, oder überhaupt irgendeiner Art von Leben war hier nicht mehr zu spüren.

Pete Winn gab Luke einen Schlüsselring. Es befand sich nur ein Schlüssel dran. Winns Gesicht verhärtete sich. Seine Augen waren stählern und kalt. Sein Verhalten hatte sich drastisch gerändert, von dem unsicheren Mann, der sie auf dem Hubschrauberlandeplatz begrüßt hatte, zu dem, was er jetzt war.

„Die Existenz dieser Hütte ist streng geheim. Offiziell existiert sie nicht, ebenso wenig wie dieser Gefangene. Ihr Besuch hier hat nie stattgefunden. Die chinesische Regierung hat keine Nachforschungen über den Verbleib eines Mannes namens Li Quiangguo angestellt, weder offiziell noch durch die Hintertür. Meines Wissens haben die Chinesen so getan, als hätten sie nichts zu verbergen oder zu befürchten und haben sogar Hilfe angeboten, um die Quelle des Hacks in das Betriebssystem des Staudamms zu finden.“

Er gestikulierte mit dem Kopf zur Kabine.

„Die Wände der Kabine sind schalldicht. Der Schlüssel öffnet einen Geräteschrank im Hinterzimmer. Wenn Sie meinen, Sie brauchen Hilfsmittel, um Ihre Befragung zu erleichtern, werden Sie dort vielleicht fündig.“

Luke nickte, sagte aber nichts. Ihm gefiel die Annahme nicht, die diese Leute alle zu machen schienen, dass er hierher gerufen worden war, um den Gefangenen zu foltern.

Hatte er schon mal Menschen gefoltert? Je nach Definition des Wortes, ja. Aber niemand hatte ihn je dafГјr einberufen mit der expliziten Aufgabenstellung, jemanden zu foltern. Es gab Leute, die sich viel besser damit auskannten als Luke. Wenn er frГјher Leute gefoltert hatte, hatte es sich stets aus der Situation heraus ergeben und er hatte improvisieren mГјssen, um an kritische Informationen zu gelangen, die Luke sofort hatte erfahren mГјssen.

Pete Winn fuhr fort, wieder etwas entspannter.

„Wenn Sie etwas brauchen, Mittagessen, Bier, Abendessen, oder wenn Sie zurück zum Landeplatz wollen, nehmen Sie einfach das Telefon in der Kabine und wählen Sie die Null. Wir schicken Ihnen, was Sie brauchen. Wenn Sie möchten, können wir Sie auch heute Nacht hier unterbringen und Ihnen zur Verfügung stellen, was Sie an Pflegeartikeln brauchen. Seife, Shampoo, Rasierer – wir haben alles da. Wir können Ihnen auch Kleidung zum Wechseln besorgen, wenn Sie sie brauchen.“

„Danke“, sagte Luke.

„Ich lasse Sie jetzt in Ruhe“, sagte Winn. „Viel Glück.“

Als er gegangen war, hielt Luke an, um mit seinen Männern vor der Hütte zu reden. Vor dem Lagerzaun türmten sich grüne Berge um sie herum auf. Das Lager schien sich in einem Talkessel zu befinden.

„Swann, wie viele Jahre warst du in China?“

„Sechs.“

„In welchem Teil?“

„Überall. Ich habe hauptsächlich in Peking gelebt, aber ich habe auch Zeit in Shanghai und Chongqing verbracht, auch ein wenig im Süden, in Guangzhou und Hongkong.“

„Okay, ich möchte, dass du den Kerl genau beobachtest und herausfindest, was du nur kannst. Egal was. Woher er kommen könnte. Wie alt er sein könnte. Sein Bildungsstand. Wie gut er sich mit Computern auskennt. Ob er überhaupt aus China stammt. Susan Hopkins' Leute haben mir gesagt, dass der Kerl fließend Englisch spricht. Wie stehen die Chancen, dass er hier in den Staaten, in Kanada oder Hongkong geboren wurde? Oder irgendwo anders. Chinesen gibt es überall.“

Swann schüttelte den Kopf. „Wenn der Kerl ein Agent ist, werde ich ihm diese Dinge nicht ansehen können. Er wird zu gut darin sein, seine Herkunft zu verbergen.“

„Sag mir einfach, was du denkst“, sagte Luke. „Das ist keine Matheaufgabe. Es gibt keine richtigen oder falschen Antworten. Ich will nur deine Meinung hören.“

Swann nickte. „Verstanden.“

Luke schaute ihn etwas genauer an. „Wie zimperlich bist du?“

Er hatte sich noch nie Sorgen um Swanns Persönlichkeit gemacht, aber jetzt kam es ihn in den Sinn, dass er so etwas wie ein schwaches Glied sein könnte.

„Zimperlich? Wie meinst du das?“

„Ed und ich müssen da drin vielleicht etwas die Muskeln spielen lassen, wenn du verstehst.“

„Nun, sag mir einfach Bescheid und ich mache einen kleinen Spaziergang.“

„Wink den Scharfschützen zu, wenn du schon dabei bist“, sagte Ed Newsam.

Etwa hundert Meter entfernt stand ein dreistöckiger Wachturm. Luke und Swann warfen einen Blick darauf. Ein Mann mit einem Gewehr stand im obersten Stockwerk und zielte scheinbar auf sie. Aus dieser Entfernung sah es so aus, als hätte er das Gewehr direkt auf sie gerichtet und als hätte er sie mit seinem Zielfernrohr im Blick.

„Kann er uns von dort aus treffen?“, fragte Swann.

„Vermutlich im Schlaf“, erwiderte Luke.

„Er übt doch nur“, sagte Ed. „Ihm ist bestimmt todlangweilig.“

Sie betraten die HГјtte.


*

Der Mann trug einen knallgelben Overall. Er saß auf einem Metallklappstuhl mitten in einem leeren Raum. Er war groß, hatte breite Schultern, dicke Armen und Beine und einen ausgeprägten Bauch.

Er trug eine schwarze Kapuze über dem Kopf. Seine Handgelenke waren hinter seinem Rücken gefesselt, seine Beine an den Knöcheln zusammengebunden. Er war nach vorne gebeugt, als würde er schlafen. Mit der Kapuze über dem Kopf war es unmöglich, das zu erkennen.

Luke zog die Kapuze vom Kopf des Mannes ab. Der Mann zuckte scheinbar überrascht zusammen und setzte sich auf. Sein tiefschwarzes Haar war zerzaust – es stand an einigen Stellen in Büscheln auf, an anderen war es flachgedrückt. Unter der Kapuze trug er eine Schlafmaske – die Art, die man sich auf langen Flügen zum Schlafen aufzieht.

Er gähnte, als würde er von einem Mittagsschlaf erwachen.

„Li Quiangguo“, sagte Luke. „Ni hui shuo yingyu ma?“

Auf Mandarin bedeutete das so viel wie Sprechen Sie Englisch?

Der Mann lächelte breit. „Nennen Sie mich Johnny“, sagte er. „Bitte. Den Namen benutze ich hier im Westen. Und lassen Sie uns Englisch sprechen. Das macht es für alle einfacher, besonders für mich.“

Sein Englisch klang auf jeden Fall amerikanisch, jedoch vollkommen akzentfrei und mit kaum Anzeichen eines regionalen Dialektes. Luke glaubte, einen leichten Dialekt aus dem mittleren Westen feststellen zu können. Aber das war nur schwer zu beurteilen. Er hätte genauso gut von einem Raumschiff heruntergebeamt worden sein können.

„Warum macht es das einfacher für Sie?“, fragte Luke.

„Es schont meine Ohren. Dann muss ich nicht zuhören, wie Sie die schöne chinesische Sprache verunstalten.“

Jetzt lächelte Luke. „Sagen Sie mir, Li. Warum haben Sie sich nicht umgebracht, als Sie die Chance dazu hatten?“

Li sah übertrieben überrascht aus, fast angeekelt. „Warum sollte ich das tun? Ich liebe Amerika. Und man hat mich bis jetzt ziemlich gut behandelt.“

Es war interessant so etwas von einem Mann zu hören, der über Nacht an einen Metallstuhl gefesselt worden war, mit einer schwarzen Kapuze und Flugzeugblenden auf dem Kopf und sich in einem Gefangenenlager befand, das nicht existierte, ohne die Möglichkeit, mit der Außenwelt Kontakt aufzunehmen. Technisch gesehen war er nicht einmal verhaftet worden. Einen Anwalt hatte er auch nicht sehen dürfen. Man würde nicht gerade viele Leute finden, die ihm zustimmen würden, wenn er sagte, er wäre gut behandelt worden. Er war bis jetzt zwar nicht gefoltert wurden, doch die meisten würden ihre Messlatte wohl etwas höher ansetzen.

Li schien Lukes Gedanken lesen zu können. „Ich habe heute Morgen die Vögel draußen zwitschern hören. Daher wusste ich, dass es ein neuer Tag war.“

Luke griff zog dem Mann mit einer Hand seine Schlafmaske ab. „Vogelzwitschern am frühen Morgen. Wie schön. Es freut mich zu hören, dass Sie Ihren Aufenthalt bisher genossen haben. Leider werden sich die Dinge bald ändern.“

„Ah.“ Die Augen des Mannes blinzelten in der plötzlichen Helligkeit. Er blickte umher und sah Swann und Ed Newsam an. Seine Augen richteten sich auf Ed.

Ed war an die Wand gelehnt. Er schien entspannt und gleichzeitig bedrohlich. Sein Körper bewegte sich kaum. Es war so viel potentielle Energie in ihm gespeichert, dass er wie ein Sturm aussah, der jeden Moment losbrechen konnte. Seine Augen wichen denen des Chinesen nicht aus.

„Ich verstehe“, sagte Li.

Luke nickte.

Lis Gesicht verhärte sich. „Ich bin nur ein Tourist. Das ist alles nur eine schreckliche Verwechslung.“

„Wenn Sie ein Tourist sind“, sagte Ed, „dann möchten Sie uns vielleicht die Namen und Kontaktinformationen Ihrer Familie geben, damit wir sie wissen lassen können, wo Sie sind. Sie wissen schon, und ihnen sagen, dass es Ihnen gut geht.“

Li schüttelte den Kopf. „Ich würde gerne die chinesische Botschaft kontaktieren.“

„Unsere Vorgesetzten haben das bereits für Sie getan“, sagte Luke. Das stimmte nicht, soweit er wusste. Er bluffte, aber er hatte das Gefühl, dass der Bluff sich auszahlen würde.

„Es war keine offizielle Anfrage, wie Sie sich vielleicht aufgrund der Situation vorstellen können“, sagte er. „Vielleicht beunruhigt es Sie zu hören, dass die chinesische Regierung nichts von Ihrer Existenz zu wissen scheint. Es gibt keine Schulaufzeichnungen, keine Arbeitsaufzeichnungen, keine Heimatstadt oder Familienverhältnisse. Wir haben ihnen einen Scan von Ihrem Pass geschickt und sie haben uns gesagt, dass es sich um eine raffinierte Fälschung handelt.“

Li starrte geradeaus. Er reagierte nicht.

Luke pausierte einen Moment. Es gab keinen Grund, ГјberflГјssig Konversation zu fГјhren. Er wusste, wie schnell Agenten weich wurden, wenn ihre Vorgesetzten sie im Stich lieГџen. Weich werden war vielleicht nicht das richtige Wort. Manchmal wechselten sie sogar ohne jeden Widerstand die Seiten.

„Li, haben Sie mich gehört? Sie werden Sie nicht beschützen. Sie werden nicht davonkommen. Sie haben die Pillen nicht genommen, als Sie die Chance dazu hatten und jetzt sind Sie hier. Es gibt keinen Ausweg. Laut Ihrer Regierung existieren Sie nicht und haben auch nie existiert. Die Einrichtung, in der Sie sich jetzt befinden, existiert ebenfalls nicht. Wir könnten Sie in einem Fass auf dem Meeresgrund versenken oder Sie in die Wüste schicken, wo Ihnen Geier die Augen aushacken… niemand würde es je erfahren.“

Der Mann hatte immer noch kein Wort gesagt. Er starrte einfach nur geradeaus.

„Li, was wissen Sie über den Black-Rock-Damm und wie die Schleusen geöffnet wurden?“

„Ich weiß gar nichts.“

Luke wartete ein paar Sekunden ab, dann sprach er weiter. „Nun, lassen Sie mich Ihnen sagen, was ich weiß. Laut dem aktuellen Stand sind mehr als tausend Menschen gestorben. Wissen Sie, wie sehr mich das mitnimmt? Ich will mich für jeden einzelnen Tod rächen. Ich möchte einen Sündenbock finden und ihn dafür bezahlen lassen. Sie sind der ideale Sündenbock, wissen Sie das, Li? Ein Mann, um den sich niemand kümmert, an den sich niemand erinnert und den niemand vermissen wird. Ich sage Ihnen noch etwas. Ich weiß, dass Sie trainiert wurden, einem Verhör zu widerstehen. Das macht mich nur noch glücklicher. Das bedeutet, dass ich mir Zeit lassen kann. Wir können hier tagelang oder sogar wochenlang bleiben. Wir haben Leute, die den Vorfall genau untersuchen. Sie werden schon herausfinden, was passiert ist. Wir brauchen Ihre Informationen nicht. Ehrlich gesagt will ich sie auch gar nicht. Ich will Ihnen nur wehtun. Je mehr Sie nur hier sitzen und ins Leere starren, desto höher wird mein Verlangen danach.“

Nun kniete Luke sich nieder, um in Lis Gesicht zu blicken. Er war nur wenige Zentimeter entfernt, so nah, dass sein Atem Lis Wangen berührte. „Wir werden uns hier drin ziemlich gut kennen lernen, okay, Li? Irgendwann werde ich alles über dich wissen.“

Luke warf einen Blick auf Swann. Er stand in einer Ecke nahe des stahlverstärkten Fensters. Er hatte kein Wort gesagt, seit sie hier reingekommen waren. Er blickte hinaus auf das Betongelände und die grünen Hügel, die es umgaben. Swann war ein Analytiker, jemand, der sich mit Daten auskannte. Luke konnte sich gut vorstellen, dass er noch nie darüber nachgedacht hatte, wie man an diese Daten gelangte. Todesdrohungen wie die, die er gerade ausgesprochen hatte, waren erst der Anfang.

„Li, der Mann spricht mit Ihnen“, sagte Ed.

Li gelang es zu Lächeln. Es war ein kränkliches Lächeln. „Bitte“, sagte er. „Nennen Sie mich Johnny.“


* * *

Eine Stunde verging. Luke und Ed hatten abwechselnd mit Li geredet, aber ohne wirkliche Ergebnisse. Wenn überhaupt, dann wurde Li immer selbstbewusster. Offenbar war er überzeugt, dass ein paar Schläge von Ed das Schlimmste waren, was er zu befürchten hatte.

Luke blickte erneut zu Swann.

„Ok, Swann“, sagte er. „Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt für dich, einen kleinen Spaziergang zu machen.“

Wenige Minuten zuvor hatte Luke den Schrank mit dem Schlüssel geöffnet, den Pete Winn ihm gegeben hatte. Der Schrank war eher ein kleiner Hauswirtschaftsraum als ein richtiger Schrank. Im Inneren befand sich ein ausklappbarer Tisch, etwas das aussah wie ein Bügelbrett, aber breiter und niedriger und viel stabiler. Es war etwa 2 Meter lang und 1,20 Meter breit.

Als Luke und Ed den Tisch aufbauten, machte sich eine deutliche Neigung bemerkbar. Auf der höheren Seite waren Handschellen für die Knöchel der Person, die darauf festgeschnallt werden würde. Am unteren Ende waren Lederriemen zum Festbinden der Handgelenke, in der Mitte einer für die Taille. Ganz unten befand sich außerdem ein Metallring, um den Kopf zu befestigen.

Es war eine Plattform fГјr Waterboarding.

Als sie den Tisch herausbrachten, wurde Li sichtlich aufgeregt. Er wusste sofort, um was es sich handelte. Natürlich wusste er es. Jeder Geheimdienstagent hatte so etwas im Rahmen der Ausbildung schon einmal gesehen, egal ob Amerikaner oder Chinese. Luke hatte sogar schon einmal einer Live-Demonstration beigewohnt. Ein abgehärteter CIA-Agent, der vorher bei den Navy SEALs gewesen war und schon in zahlreichen Krisengebieten gedient hatte, war das Testsubjekt gewesen.

Wie sie diesen Mann davon überzeugt hatten, sich freiwillig zu melden, hatte Luke nie herausfinden können. Vielleicht hatte er einen ordentlichen Bonus bekommen. Der Agent hatte vor der Demonstration entspannt gewirkt. Er hatte gelacht und mit seinen späteren Folterern gewitzelt. Als die Prozedur begann, war er wie verwandelt. Es dauerte ganze vierundzwanzig Sekunden, bevor er das Sicherheitswort benutzt hatte, um den Vorgang abzubrechen.

„Das verstößt gegen die Genfer Konventionen“, sagte Li mit einem leichten Zittern in der Stimme. „Es ist gegen…“

„Soweit ich weiß, sind wir nicht in Genf“, sagte Luke. „Wir sind im Nirgendwo. Wie ich schon sagte, diese Einrichtung existiert nicht, genau so wenig wie jemand namens Li Quiangguo.“

Luke beschäftigte sich mit den anderen Utensilien, die er aus dem Schrank genommen hatte. Dazu gehörten zwei große Gießkannen, wie sie eine nette ältere Dame zur Bewässerung ihres Gartens verwenden würde. Außerdem gab es Schlösser für die Handfesseln und Lederriemen auf dem Brett. Und schließlich gab es eine Reihe von mittelgroßen schweren Stoffhandtüchern und eine Rolle Zellophan. Luke wusste zufällig, dass die CIA das Zellophan bevorzugte.

„Mann“, sagte Ed. „So etwas habe ich seit Afghanistan nicht mehr gemacht. Das ist mindestens fünf Jahre her.“

„Dann ist es bei dir noch nicht so lange her wie bei mir“, sagte Luke. „Du darfst gerne anfangen. Wie war es damals so?“

Ed zuckte die Achseln. „Beängstigend. Ein paar von denen sind uns weggestorben. Ganz anders, als andere Methoden, die ich kenne. Man kann Leute den ganzen Tag Elektroschocks verpassen, wenn die Spannung stimmt. Das tut weh, aber tötet nicht. Hier passiert das aber ganz leicht. Man kann ertrinken. Hirnschäden davontragen. Herzinfarkte erleiden. Ganz schön ätzend.“

„Hören Sie mir zu“, sagte Li. Inzwischen zitterte er am ganzen Körper. „Waterboarding verstößt gegen sämtliche Kriegsgesetze. Es wird von jedem internationalen Gremium als Folter anerkannt. Sie begehen hier eine Menschenrechtsverletzung.“

„Mann, plötzlich geht es dir nur noch um Regeln und Vorschriften“, sagte Ed. „Wenn jemand absichtlich tausende von Menschen überflutet und hunderte von ihnen umbringt, ist er für mich kein Mensch mehr. Ich würde sagen, du hast deine Menschenrechte verwirkt.“

„Jungs“, sagte Swann. „Ich fühle mich nicht wohl dabei.“

Luke sah ihn an. „Swann, ich habe dir doch gesagt, es ist ein guter Zeitpunkt, um zu gehen. Gib uns etwa 20 Minuten. Das sollte reichen.“

Swanns Gesicht wurde rot. „Luke, nach allem, was ich gehört habe, bekommt man vom Waterboarding nicht einmal vernünftige Informationen. Er wird euch nur anlügen, damit ihr aufhört.“

Swann hatte Luke noch nie in Frage gestellt. Er fragte sich, ob jetzt das erste Mal sein wГјrde und schГјttelte den Kopf.

„Swann, du darfst nicht alles glauben, was du liest. Ich habe selbst gesehen, wie man in nur wenigen Minuten verwertbare und genaue Informationen erhalten kann. Und da Herr Li hier noch länger unser Gast sein wird, können wir seine Behauptungen schnell überprüfen und sie auch noch einmal genauer miteinander besprechen, wenn sie nicht der Wahrheit entsprechen sollten. Man will diese Methode nur nicht anwenden, da sie, wie Herr Li so treffend gesagt hat, als Folter angesehen wird. Aber sie funktioniert, und unter den richtigen Umständen funktioniert sie sogar wirklich, wirklich gut.“

Luke breitete die Arme aus. „Und das sind die richtigen Umstände.“

Swann starrte ihn an. „Luke…“

Luke hob eine Hand. „Swann. Geh jetzt raus. Bitte.“ Er zeigte auf die Tür.

Swann schüttelte den Kopf. Sein Gesicht war rot geworden. Er schien jetzt auch zu zittern. „Warum hast du mich dafür überhaupt herbestellt?“, sagte er. „Ich arbeite nicht mehr für das FBI, und du auch nicht.“

Luke lächelte fast ein wenig. Er wusste nicht, was Swann wirklich dachte, aber er hätte selbst kein besseres Drehbuch schreiben können. Sie spielten guter Cop, böser Cop um das Hundertfache verstärkt.

„Früher oder später brauche ich dich noch“, sagte Luke. „Aber nicht hierfür. Und jetzt verschwinde. Bitte. Bis jetzt war ich noch höflich. In einer Minute kann ich für nichts mehr garantieren.“

„Ich werde eine formelle Beschwerde einreichen“, sagte Swann.

„Mach das. Du weißt, für wen ich arbeite. Deine Beschwerde wird direkt im Aktenvernichter landen. Das sollte dir klar sein. Aber tu dir keinen Zwang an.“

„Keine Sorge“, sagte Swann. Damit ging er zur Tür hinaus. Er zog sie fest hinter sich zu, ohne sie jedoch zuknallen zu lassen.

Luke seufzte. Er sah Ed an. „Ed, kannst du bitte die Gießkannen auffüllen? Wir werden sie gleich brauchen.“

Ed grinste teuflisch. „Mit Vergnügen.“

Als er die GieГџkannen aufhob, starrte er Li an. Er demonstrierte seinen verrГјckten Blick mit weit aufgerissenen Augen, den er so gut beherrschte. Es war ein Blick, vor dem selbst Luke manchmal Angst hatte. Ed wirkte wie ein Psychopath, wenn er so aussah. Er sah aus wie jemand, dem nichts besser gefiel als Sadismus. Luke war sich manchmal nicht ganz sicher, wie Ed das schaffte. Um ehrlich zu sein, wollte er es auch nicht wissen.

„Oh, Bruder“, sagte Ed zu Li. „Das wird ein ganz schön langer Tag für dich.“

Während Ed sich in der winzigen Küche der Hütte vergnügte, schaute Luke Li genau an. Er zitterte jetzt. Sein ganzer Körper vibrierte, als würde ein schwacher Strom durch ihn fließen. Seine Augen waren groß und sahen verängstigt aus.

„Sie haben das schon einmal gesehen, nicht wahr?“, fragte Luke.

Li nickte. „Ja.“

„An Gefangenen?“

„Ja.“

„Es ist schlimm“, sagte Luke. „Es ist sehr schlimm. Niemand hält das aus.“

„Ich weiß“, sagte Li.

Luke warf einen Blick in die Küche. Ed ließ sich Zeit. „Und Ed… Sie müssen wissen, wie er ist. Er genießt so etwas.“

Li hatte keine Antwort darauf. Seine Gesichtsfarbe wandelte sich langsam von einem hellen in ein dunkles Rot. Es schien, als ob eine Explosion in ihm stattfand und er versuchte, sie einzudämmen. Er drückte seine Augen zu. Seine Zähne knirschten, dann fingen sie an zu klappern. Sein ganzer Körper begann zu zittern.

„Mir ist kalt“, sagte er. „Ich kann nicht mehr.“

In diesem Moment wurde Luke etwas klar.

„Sie haben es schon mal am eigenen Körper erfahren“, sagte er. „Von Ihren eigenen Leuten.“ Das war keine Frage. Er wusste es plötzlich instinktiv. Li war schon einmal Waterboarding ausgesetzt gewesen, und aller Wahrscheinlichkeit nach war es die chinesische Regierung gewesen, die es ihm angetan hatte.

Plötzlich öffnete sich Lis Mund wie zu einem Schrei. Es war ein stiller Schrei, seine Kiefer öffneten sich so weit es nur ging. Luke erinnerte die Grimasse an einen Werwolf, der unter brechenden Knochen die Verwandlung von einem Menschen zu einem Wolf durchmachte und vor Schmerzen heulte. Nur, dass kein Geräusch zu hören war. Fast nichts war von Li zu hören, außer ein leises, würgendes Geräusch tief in seiner Kehle.

Sein ganzer Körper war jetzt steif, jeder Muskel war angespannt, als ob er auf einem elektrischen Stuhl sitzen würde.

„Sie waren ein Verräter“, sagte Luke. „Ein Staatsfeind. Sie wurden im Gefängnis rehabilitiert. Sie haben Sie zu einem Agenten gemacht, aber nicht gerade zu einem besonders wertvollen. Jemand Entbehrliches. Darum waren Sie hier draußen im Einsatz, darum hatten Sie Zyanid-Pillen dabei. Sie sollten sich umbringen, wenn man Sie erwischt. Es stand so gut wie fest, dass man Sie schnappt, nicht wahr? Aber Sie haben es nicht getan, Li. Sie haben sich nicht umgebracht und jetzt sind wir die einzige Hoffnung, die Sie noch haben.“

„Bitte!“, schrie Li. „Bitte hören Sie auf!“

Der Körper des Mannes zitterte unkontrolliert. Mehr noch. Ein Geruch begann von ihm auszugehen. Ein dicker, feuchter Geruch nach Exkrementen.

„Oh mein Gott“, sagte er. „Oh mein Gott. Helfen Sie mir. Helfen Sie mir!“

„Was ist hier los?“, sagte Ed, als er mit den Gießkannen zurückkam. Er verzog das Gesicht, als der Geruch in seine Nase stieg. „Oh, Mann.“

Luke hob die Augenbrauen. Er hatte fast schon Mitleid mit diesem Mann. Dann dachte er an die mehr als tausend Toten und die vielen tausend, die ihr Zuhause verloren hatten. Nichts, keine noch so negative Lebenserfahrung konnte das rechtfertigen.

„Ja, Li ist ein Wrack“, sagte er. „Sieht nach einem Trauma aus. Das ist scheinbar nicht sein erstes Mal Waterboarding.“

Ed nickte. „Gut. Also weiß er schon, wie es läuft.“ Er sah auf Li herab. „Wir machen trotzdem weiter, hörst du, Kleiner? Der Geruch ist uns egal, also wenn das deine große Wette war, hat sie nicht funktioniert.“

Ed warf einen Blick auf Luke. „Ich habe das schon mal gesehen. Die Leute versuchen es, weil sie denken, dass der Geruch so übel ist, dass wir nicht weitermachen wollen. Oder dass wir vielleicht Mitleid mit ihnen haben. Was weiß ich.“

Er schüttelte den Kopf. „Der Geruch ist zwar ekelhaft, aber ich habe noch nie gesehen, dass es funktioniert. Wir wären nicht hier, wenn wir so sensibel wären, Li. Ich weiß wie Männer riechen, nachdem man sie ausweidet. Glauben Sie mir, das ist schlimmer als alles, was auf dem normalen Weg rauskommt.“

„Bitte“, sagte Li wieder. Er sprach leise, seine Stimme fast ein Flüstern. Sein Körper zitterte unkontrolliert. Er ließ den Kopf hängen und starrte auf den Boden. „Bitte tun Sie das nicht. Ich halte es nicht aus.“

„Erzählen Sie uns etwas“, sagte Luke. „Etwas Gutes, und dann sehen wir weiter. Sehen Sie mich an, Li.“

Der Kopf von Li hing jetzt noch tiefer. Er schüttelte ihn. „Ich kann nicht.“ Sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. Dann fing er an zu weinen.

„Helfen Sie mir. Bitte helfen Sie mir.“

„Sie fangen besser an zu reden“, sagte Luke. „Sonst legen wir jetzt los.“

Luke stand drei Meter entfernt und beobachtete ihn. Li saß zusammengesunken da, mit hängendem Kopf, die Arme hinter dem Rücken und immer noch am ganzen Körper zitternd. Jedes Körperteil von ihm schien sich in einem anderen Rhythmus zu bewegen. Luke sah, dass Lis Overall nun auch im Schritt nass war. Er hatte sich in die Hose gemacht.

Luke seufzte tief. Er bedauerte denjenigen, der ihn nachher sauber machen musste.

„Li?“, sagte er.

Li blickte immer noch zu Boden. Seine Stimme klang, als käme sie vom Boden eines Brunnens. „Es gibt ein Lagerhaus. Ein kleines Lagerhaus, mit einem Büro. Import chinesischer Waren. Im Büro werden Sie alles finden, was Sie brauchen.“

„Wessen Büro ist das?“, fragte Luke.

„Meins.“

„Eine Scheinfirma?“, fragte Ed.

Li versuchte, die Achseln zu zucken. Sein Körper zitterte und bebte. Seine Zähne klapperten, während er sprach. „Größtenteils. Ein wenig Geschäft haben wir schon gehabt, sonst wären wir aufgeflogen.“

„Wo ist es?“

Li murmelte etwas vor sich hin.

„Wie bitte?“, fragte Luke. „Ich kann Sie nicht hören. Wenn Sie uns verarschen, können wir immer noch anders. Ed will immer noch loslegen. Überlegen Sie es sich gut.“

„In Atlanta“, sagte Li, jetzt klar und deutlich, als ob es eine Erleichterung gewesen wäre, das loszuwerden. „Das Lagerhaus ist in Atlanta. Das war unser Hauptquartier.“

Luke lächelte.

„Geben Sie uns die genaue Adresse und wir fliegen sofort vorbei. Wir sind in ein paar Stunden wieder da.“ Er legte seine Hand auf Lis Schulter. „Gott steh Ihnen bei, wenn Sie uns anlügen.“


*

„Gut gemacht, Swann“, sagte Luke. „Ich hätte das Drehbuch selbst nicht besser schreiben können.“

„Habe ich jemals erwähnt, dass ich in der Highschool im Theaterclub war? Ich habe ein Jahr lang Mackie Messer gespielt.“

„Du hast den Beruf verfehlt“, sagte Luke. „Du hättest nach Hollywood gehen können, wenn man nach dem geht, was ich da drin gesehen habe.“

Sie bewegten sich den Betonweg hinunter zu dem wartenden schwarzen SUV. Zwei Männer in FEMA-Overalls waren gerade ausgestiegen und gingen in die Kabine. Luke blickte sich um. Überall um sie herum waren Zäune und Stacheldraht. Hinter dem nächsten Wachturm erhob sich ein steiler grüner Hang in Richtung der nördlichen Berge von Georgia.

Swann lächelte. „Ich hab mein Bestes gegeben.“

„Also ich habe es dir abgekauft“, sagte Ed.

„Naja, es war schon echt. Ich brauchte nicht groß zu schauspielern. Ich bin wirklich nicht dafür, Leute zu foltern.“

„Wir auch nicht“, sagte Ed. „Jedenfalls nicht immer.“

„Habt ihr es durchgezogen?“, fragte Swann.

Luke lächelte. „Was denkst du?“

Swann schüttelte den Kopf. „Ich war erst zehn Minuten weg, als ihr rauskamt, also denke ich nicht.“

Ed klopfte ihm auf den Rücken. „Na dann ist ja gut, du alter Datenanalytiker.“

„Was denn nun, habt ihr, oder habt ihr nicht?“, fragte Swann. „Jungs?“

Innerhalb weniger Minuten saГџen die drei wieder im Hubschrauber, stiegen Гјber dem dichten Wald auf und flogen in Richtung SГјden nach Atlanta.




KAPITEL SECHS


10:05 Uhr

Marine-Observatorium – Washington, DC



„Herr Abgeordneter, danke, dass Sie gekommen sind.“

Susan Hopkins streckte dem großen Mann in seinem blauen Anzug die Hand entgegen. Michael Parowski war Abgeordneter aus dem Bundesstaat Ohio. Er hatte frühzeitig weiße Haare und zusammengekniffene, blassblaue Augen. Mit seinen 55 Jahren sah er immer noch auf eine raue Art attraktiv aus. In eine Arbeiterfamilie geboren hatte er die großen Hände und breiten Schultern eines Mannes, der seine Karriere als Eisenarbeiter begonnen hatte.

Susan kannte seine Vorgeschichte. Er war sein Leben lang Junggeselle gewesen. Aufgewachsen war er in Akron, als Sohn von Immigranten aus Polen. Als Teenager war er Boxer im Golden Gloves Amateurturnier gewesen. Die Industriestädte des Nordens, Youngstown, Akron und Cleveland waren seine Heimat. Die Unterstützung, die er von den Menschen dort erfuhr, war unerschütterlich. Mehr noch, er war dort schon fast so etwas wie eine Legende. Er befand sich in seiner neunten Amtszeit und dass er dieses Jahr wiedergewählt werden würde, war so gut wie sicher. Diese Frage stellte sich gar nicht. Würde die Sonne morgen wieder aufgehen? Würde sich die Erde weiterhin um ihre Achse drehen? Würde ein Ei, das man in der Küche fallen lässt, auf dem Boden zerspringen? Er war so etwas wie eine Naturgewalt. Er würde nirgendwo hingehen.

Susan hatte Videos seiner Reden gesehen, die er auf Wahlveranstaltungen, Feiertagen oder ethnischen Festen hielt (denen er übrigens völlig unabhängig von der Abstammung beiwohnte – ob Polen, Griechen, Puerto Ricaner, Italiener, Afroamerikaner, Iren, Mexikaner, Vietnamesen) und bei denen er durch die Menschenmengen watete. Er schüttelte jede Hand, klopfte auf jeden Rücken, umarmte, wen er nur konnte. Sein Markenzeichen war es, Frauen ins Ohr zu flüstern.

Inmitten der Menschenmenge, egal ob es Dutzende oder Hunderte waren, die sich an ihn drängten, nahm er stets eine ältere Dame zur Seite und flüsterte ihr ins Ohr. Manchmal lachten sie, manchmal wurden sie rot, andere tadelten ihn spielerisch. Die Menge betete ihn an und keine der Damen wiederholte je, was er zu ihr gesagt hatte. Es war politisches Theater auf höchstem Niveau und wenn sie ganz ehrlich war, liebte Susan diese Momente.

Hier in DC war er jedoch ganz der Geschäftsmann. Er war einer der besten Freunde der Arbeiterbewegung auf dem Capitol Hill. Wenn es um Themen ging, die Susan am Herzen lagen, war er jedoch nicht ganz auf ihrer Wellenlänge: Frauenrechte, Rechte für Homosexuelle, oder Umweltschutz. Trotzdem fand sie, dass sie sich gut ergänzten. Sie konnte leidenschaftlich über sauberes Wasser und saubere Luft sprechen oder über die Gesundheit von Frauen und er konnte ihrer Leidenschaft Paroli bieten, wenn er über die Probleme des amerikanischen Arbeiters sprach.

Trotzdem war Susan nicht sicher, ob er der Richtige war, aber die Veteranen ihrer Partei hatten ihr gut zugeredet. Sie wollten ihn für den Job. Um ehrlich zu sein, hatten sie praktisch die Entscheidung für sie getroffen. Was sie besonders an ihm zu schätzen schienen, war sein Durchhaltevermögen. Er trank nicht, er rauchte nicht und es schien so, als müsste er nie schlafen. Er lebte im Flugzeug und sprang scheinbar problemlos zwischen Washington und seinem Bezirk hin und her. Er war immer anwesend, wenn es eine dringende Komiteesitzung oder Abstimmungen gab. Sechs Stunden später stand er auf einem Friedhof in Youngstown, scheinbar unbeeinträchtigt, pflichtbewusst mit Tränen in den Augen, seine großen, starken Arme um die Mutter eines toten Soldaten gelegt, während sie Trost an seiner Brust suchte.

Manche behaupteten, er sei noch mit einigen Mafiosi befreundet, die sich in seiner Jugend in seiner Nachbarschaft herumgetrieben hatten… doch das trug nur zu seinem Ruf bei. Er konnte weich oder hart sein, er war loyal und er war niemand, mit dem man sich anlegen wollte.

Er schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. „Frau Präsidentin, was verschafft mir diese Ehre?“

„Bitte, Michael. Für dich ist es immer noch Susan.“

„Okay. Susan.“

Sie führte ihn zurück in ihr Arbeitszimmer. Als Vizepräsidentin hatte sie schon lange darauf verzichtet, wichtige Meetings in ihrem Büro abzuhalten. Sie bevorzugte die etwas zwanglosere Atmosphäre und die schöne Umgebung des Arbeitszimmers. Als sie hereinkamen, war Kat Lopez bereits da und wartete.

„Kennen Sie meine Stabschefin, Kat Lopez?“

„Ich hatte noch nicht das Vergnügen.“

Die beiden gaben sich die Hand. Kat schenkte ihm eines ihrer seltenen Lächeln. „Herr Abgeordneter, ich bin schon seit der Uni ein großer Fan.“

„Wann war das, letztes Jahr?“

In dem Moment passierte etwas untypisches fГјr Kat. Sie wurde rot. Nur kurz, und es war fast sofort wieder verschwunden, aber Susan sah es trotzdem. Parowski hatte einfach auf jeden eine Wirkung.

Susan bot ihm einen Stuhl an. „Sollen wir uns setzen?“

Parowski setzte sich in einen der bequemen Sessel. Susan saГџ ihm gegenГјber. Kat stand hinter ihr.

„Mike, wir kennen uns schon sehr lange. Also werde ich nicht groß um den heißen Brei reden. Wie du weißt, wurde ich ziemlich unerwartet Präsidentin, als Thomas Hayes starb. Ich habe etwas Zeit gebraucht, um in Fahrt zu kommen. Und ich habe die Wahl meines Vizepräsidenten vor mich hergeschoben, bis die unmittelbare Krise vorbei war.“

„Ich habe einige Gerüchte darüber gehört, was gestern passiert ist“, sagte Parowski.

Susan nickte. „Sie stimmen. Wir glauben, es war ein Terroranschlag. Aber wir werden es, wie andere Vorfälle auch, überleben und wir werden noch stärker und widerstandsfähiger daraus hervorgehen. Und das können wir unter anderem mit einem starken Vizepräsidenten erreichen.“

Parowski starrte sie nur an.

Susan nickte. „Mit dir.“

Er sah zu Kat Lopez hinauf, dann wieder zu Susan. Er lächelte.

„Ich dachte, du wolltest mich bitten, ein paar Stimmen für dich im Abgeordnetenhaus zu sammeln.“

„Das werde ich auch“, sagte sie. „Aber ich möchte, dass du das als Vizepräsident und damit Präsident des Senats tust, nicht als Abgeordneter aus Ohio.“

Sie hob die Hände. „Ich weiß. Es fühlt sich an, als würde ich dir das in den Schoß werfen, und das tue ich auf gewisse Art auch. Aber ich habe meine Fühler ausgestreckt und in den letzten sechs Monaten mit genug Leuten geredet, die wissen was sie tun. Dein Name ist der, der immer wieder auftaucht. Du bist unglaublich beliebt in deinem Bezirk und der gesamte Norden der Vereinigten Staaten steht hinter dir. Sogar die konservativen Arbeiterviertel im Süden mögen dich. Und du scheinst das Durchhaltevermögen zu haben, das ich brauche, wenn es in ein paar Jahren um eine Wiederwahl geht.“

„Ich nehme an“, sagte er.

„Lass dir Zeit“, sagte Susan. „Ich will dich nicht drängen.“

Sein Lächeln wurde breiter. Nun hob er die Hände, fast beschwichtigend. „Was soll ich sagen? Das ist wie ein Traum. Ich liebe, was du tust. Du hast dieses Land in einer Zeit zusammengehalten, in der es fast auseinandergebrochen wäre. Du warst viel härter, als man es dir zugetraut hat.“

„Danke“, sagte Susan. Sie fragte sich, ob er das gleiche denken würde, wenn er sie gesehen hätte, wie sie damals weinend in diesem Raum gesessen und gedacht hatte, dass neunzigtausend Menschen oder mehr durch den Ebola-Angriff sterben würden.

Sie nickte zuversichtlich.

Er zeigte mit seinem dicken Zeigefinger auf sie. „Lass mich dir etwas sagen. Ich wusste schon immer, dass du das Zeug dazu hast. Ich kann Menschen gut einschätzen. Das habe ich schon als Kind gelernt und ich habe das gewisse Etwas in dir gesehen, seit du nach DC kamst. Als am sechsten Juni das Unglück passiert ist, habe ich den Leuten gesagt, dass wir in guten Händen sind. Den Überlebenden, den Fernsehinterviewern und mindestens zehntausend Leuten in meinem Bezirk.“

Susan nickte. „Das weiß ich.“ Und das stimmte. Dieser Fakt war ebenfalls bei ihren Nachforschungen immer wieder aufgetaucht. Michael Parowski steht hinter dir.

„Du musst aber etwas über mich wissen“, sagte er. „Du weißt wie ich bin. Ich bin ein großer Typ – nicht nur körperlich. Wenn du jemanden suchst, der sich hinten hinstellt und im Hintergrund verschwindet, dann bin ich wahrscheinlich nicht der Richtige.“

„Michael, wir haben dich auf jede erdenkliche Weise überprüft. Wir wissen alles über dich. Wir wollen nicht, dass du im Hintergrund stehst. Wir wollen dich im Vordergrund. Wir wollen, dass du du selbst bist. Wir wollen deine Stärke. Wir bauen hier eine Regierung auf, und in gewisser Weise bauen wir den Glauben der Leute an Amerika wieder auf. Es wird ein hartes Stück Arbeit, darauf kannst du dich verlassen. Deshalb haben wir dich ausgewählt.“

Er warf ihr einen Seitenblick zu. „Du weißt alles über mich, wie?“

Sie lächelte. „Na ja, fast alles. Es gibt noch ein Rätsel, das ich gerne lösen würde.“

„Okay, nur zu“, sagte er. „Was ist es?“

„Wenn du bei deinen Veranstaltungen Damen zur Seite ziehst, was flüsterst du ihnen dann zu?“

Er schnaufte. Ein etwas merkwГјrdiger Blick machte sich auf seinem Gesicht breit. Es sah aus, als wГјrde jahrzehntelange Anspannung etwas von ihm abfallen. FГјr ein paar Sekunden sah er fast unschuldig aus, wie das Kind, das er einmal gewesen sein musste.

„Ich sage ihnen, wie schön sie heute aussehen“, sagte er. „Dann sage ich: ‚Sagen Sie es nicht weiter. Das bleibt unser kleines Geheimnis.� Und das meine ich ernst, jedes Wort davon.“

Er schüttelte den Kopf, und Susan glaubte, eine Art Bewunderung in ihm zu entdecken – über die Menschen, die ihm folgten, über die Politik an sich, über das schiere Ausmaß dessen, was Menschen wie er und Susan jeden einzelnen Tag ihres Lebens leisteten.

„Es funktioniert jedes Mal“, sagte er.




KAPITEL SIEBEN


11:45 Uhr

Atlanta, Georgia



„Geht es Herrn Li gut? Ich habe ihn hier schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen.“

Der Mann war klein und dünn, mit einem schmalen und gebeugten Rücken. Er trug eine graue Uniform mit dem Namen Sal, der auf seine Brust gestickt war. Er hatte ständig eine angezündete Zigarette im Mund. Er sprach, während sie in seinem Mundwinkel steckte. Er schien nie die Notwendigkeit zu sehen, sie herauszunehmen, bis sie aufgeraucht war. Dann zündete er sich eine weitere an. In einer Hand trug er einen schweren Bolzenschneider.

„Oh, es geht ihm gut“, sagte Luke.

Sie gingen einen langen, breiten Holzkorridor entlang. Er wurde von flackernden Leuchtstoffröhren beleuchtet. Während sie den Gang hinabschritten, huschte eine kleine Ratte vor ihnen her und verschwand in einem Loch in der Wand. Sal schien sie gar nicht zu bemerken, also ließ Luke sie ebenfalls unkommentiert. Er warf Ed einen Blick zu. Ed lächelte schweigend. Swann hustete hinter ihnen.

Lis Räumlichkeiten befanden sich in einem großen alten Lagerhaus, das über die Jahre in mehrere kleinere Abteile unterteilt worden war. Dutzende von kleinen Firmen mieteten hier Räume. Am Ende des Korridors gab es eine Laderampe und der Korridor selbst war perfekt, um Waren zu verladen.

Sal schien so etwas wie ein Hausmeister zu sein. Anfangs hatte er gezögert, sie hereinzulassen. Aber als Ed ihm seinen FBI-Ausweis zeigte und Swann seine brandneue NSA-Marke herausholte, spielte Sal auf einmal eifrig mit. Luke hatte sein Abzeichen in der Tasche gelassen. Er hatte nur seinen alten Special Response Team Ausweis und das SRT existierte nicht mehr.

„In was für Schwierigkeiten steckt er bloß?“, fragte Sal.

Luke zuckte die Achseln. „Nichts Spektakuläres. Steuerprobleme, Ärger mit Marken- und Patentverletzungen. Was man von einem Kerl erwarten würde, der Waren aus China einführt. So etwas müssen Sie doch ständig sehen, oder? Ich war vor ein paar Jahren mal in Chongking. Dort kann man in die Lagerhäuser am Hafen spazieren und brandneue iPhones für fünfzig Dollar kaufen, oder Breitling-Uhren für hundertfünfzig. Natürlich sind sie nicht echt. Aber wenn man nicht ganz genau hinschaut, sieht man keinen Unterschied.“

Sal nickte. „Sie würden nicht glauben, was ich hier schon erlebt habe.“ Er blieb vor einer Stahltür stehen. „Herr Li schien aber jedenfalls ein netter Mann zu sein. Sein Englisch ist nicht besonders gut, würde ich sagen, aber er kommt zurecht. Und er ist sehr höflich. Er verbeugt sich ständig und lächelt so nett. Aber ich bin mir nicht sicher, wie viel er tatsächlich so verkauft.“

Die MetalltГјr hatte ein schweres Schloss. Sal hob den Bolzenschneider an und zerschnitt es mit Leichtigkeit.

„Das hätten wir“, sagte er. „Ich hoffe, Sie finden, wonach Sie suchen.“

Er ging bereits den Flur hinunter in Richtung seines BГјros.

„Danke für Ihre Hilfe“, rief Ed hinter ihm her.

Sal hob eine Hand. „Ich bin schließlich ein guter Amerikaner“, sagte er, ohne sich umzudrehen.

Ed beugte sich vor und schob die Tür auf. Ohne einzutreten verschafften sie sich einen Überblick über den Raum dahinter. Ed streckte seine Hand hinein und winkte langsam von einer Seite zur anderen und auf und ab, auf der Suche nach möglichen Sprengfallen.

Scheinbar war es nicht nötig. Lis Lagerhaus wies keine Schutzmechanismen auf. Mehr noch, es schien schon vor langer Zeit verlassen worden zu sein. Als Luke den Lichtschalter umlegte, ging nur die Hälfte der Deckenbeleuchtung an. Plastikverpackte Paletten mit billigem Spielzeug waren in Reihen gestapelt und mit grünen Planen abgedeckt. Kisten mit billigen Haushaltsreinigungsmitteln, wie sie in 1-Dollar-Läden und bei Rabattaktionen auftauchen würden, waren in einer Ecke gestapelt, fast bis zur Decke. Alles war mit einer dünnen Staubschicht bedeckt. Das Zeug lag schon eine Weile hier.

Es schien, als hätte Li eine Ladung Schrott importiert, um den Schein zu wahren, und sich dann nie wieder darum gekümmert.

„Das Büro ist dort drüben“, sagte Swann.

In der hinteren Ecke des Lagerhauses befand sich die TГјr zu dem kleinen BГјro. Sie war aus Holz, mit einem eingelassenen Fenster. Luke versuchte den Knauf zu drehen. Abgeschlossen. Er warf einen Blick auf Ed und Swann.

„Hat einer von euch beiden einen Dietrich? Sonst müssen wir Sal erklären, dass das organisierte Verbrechen jetzt mit Reinigungsmitteln handelt.“

Ed zuckte die Achseln und nahm sein SchlГјsselbund aus der Hosentasche. An ihm war eine kleine schwarze Taschenlampe angebracht. Ed hielt die Taschenlampe wie einen Schlagstock und durchschlug mit ihr das Fenster. Er griff durch das Loch und schloss die TГјr von innen auf. Er hielt Luke die Taschenlampe hin, damit er sie inspizieren konnte.

„Wie ein Dietrich, nur nicht so elegant.“

Sie gingen hinein. Das Büro war trostlos, aber ordentlich. Es gab kein Fenster. An der Wand stand ein Aktenschrank mit drei Schubladen, der größtenteils leer war. In den unteren Schubladen waren jeweils ein paar Ordner mit Versandpapieren und Quittungen. In der oberen Schublade lagen ein paar Energieriegel und kleine Tüten mit Brezeln und Kartoffelchips, sowie ein paar Flaschen Wasser.

Es gab einen langen Holzschreibtisch, auf dem ein alter Desktop-Computer stand. Auf der einen Seite des Schreibtisches befanden tiefe Schubladen, in denen für gewöhnlich Akten in Hängevorrichtungen aufbewahrt wurden. Diese Schubladen waren verschlossen.

„Ed?“, fragte Luke.

Ed ging hinüber, griff nach der obersten Schublade und riss sie mit roher Gewalt auf. Es sah ein wenig aus, als hätte er einen Trick angewandt, eine Technik, die er eigens dafür entwickelt hatte, solche Schlösser zu knacken. Luke wusste jedoch, dass es nur reine Kraft war.

„Wie ein Dietrich“, sagte er.

Luke nickte. „Nur nicht so elegant.“

In den Schubladen war nicht viel zu finden. Bleistifte, verblasste Schreibwarenreste. Eine ungeöffnete Packung Wrigley-Kaugummis. Ein alter Taschenrechner von Texas Instruments. In einer der Schubladen lagen drei CD-ROMs in schmutzigen Plastikhüllen.



Die HГјllen waren mit den Buchstaben A, B und C beschriftet. Die HГјlle von CD C war kaputt.

Swann setzte sich an den Computer und fuhr ihn hoch. „Ziemlich altmodisch“, sagte er. „Das Ding ist wahrscheinlich 20 Jahre alt. Ich wette, es ist nicht einmal mit dem Internet verbunden. Oh Mann, schaut euch das an. Das Teil stammt aus einer Zeit vor Kabelanschlüssen, von WLAN ganz zu schweigen. Es gibt nicht mal einen Anschluss für Cat-5-Kabel. Hierfür bräuchte man ein 56k-Modem. Erinnert sich noch jemand an die Dinger?“

FГјr Luke ergab das keinen Sinn.

„Warum sollte jemand aus einem Land, das für seine Hacker bekannt ist, einen Computer hier stehen haben, der sich nicht einmal mit dem Internet verbinden könnte, wenn er es wollte?“

Swann zuckte die Achseln. „Ich habe da ein paar Vermutungen.“

„Möchtest du sie mit uns teilen?“

„Erstens, vielleicht ist er überhaupt kein Chinese. Er ist kein Hacker-Genie oder sonst etwas. Der Hack, der den Damm ausgeschaltet hat, war nicht besonders fortschrittlich. Wir wissen, dass das Computersystem vom Damm extrem rückständig war. Vielleicht gehört er einfach zu einer Gruppe, die nicht von der Regierung unterstützt wird.“

„Wenn er kein Chinese ist, was ist er dann?“, fragte Luke.

Swann zuckte die Achseln. „Er könnte Amerikaner sein. Er könnte Kanadier sein. Er hat hohe Wangenknochen und flache Gesichtszüge, was bedeuten könnte, dass er Thailänder ist. Er ist ein großer Kerl, was bedeuten könnte, dass er Nordchinese ist. Er könnte ein Amerikaner asiatischer Abstammung sein. Ich habe nichts an ihm gesehen, was eindeutig auf irgendeine Nationalität hindeuten könnte. Aber ich würde ihn nicht gleich als Chinesen abstempeln, nur weil er einen chinesischen Pass hat.“

„Okay, was ist deine zweite Vermutung?“, fragte Luke.

„Meine zweite Vermutung ist, dass sie sich für dieses altmodische Ding entschieden haben, damit niemand erfahren kann, was sie hier tun. Man kann sich in keinen Computer einhacken, wenn er nicht mit dem Internet verbunden ist. So kann niemand seine Daten auslesen. Der einzige Weg, an diese Daten zu kommen, ist hier in dieses gottverlassene Lagerhaus mitten im Industriegebiet am Rande von Atlanta zu gehen. Und wir wissen nur von diesem Lagerhaus, weil wir Li gefoltert haben, oder ihm angedroht haben, ihn zu foltern. Und das hätte von vornherein eigentlich gar nicht geschehen dürfen, da er sich selbst hätte umbringen sollen, bevor er gefasst wurde. Wenn jemand diesen Computer gefunden hätte, wären es Lis eigene Leute oder im schlimmsten Fall Sal, wenn keiner mehr Miete zahlt. Und der hätte das Ding entweder direkt auf den Müll geworfen oder für 10 Dollar verkauft.“

Der Computerbildschirm ging an und verlangte ein Passwort.

Swann gestikulierte auf dem Bildschirm. „Und das hier wäre schon genug gewesen, um Sal aufzuhalten.“

„Kannst du es knacken?“, fragte Ed.

Swann lächelte verschmitzt. „Machst du Witze? Diese Verschlüsselungen von 1994 sind ein Witz. Ich habe diese Dinger schon geknackt, als ich noch dreizehn Jahre alt war.“

Er tippte einen Befehl ein, und eine schwarze MS-DOS-Konsole erschien in der linken oberen Ecke. Er gab noch ein paar weitere Befehle ein, zögerte einen Moment, tippte weiter, und der Windows-Bildschirm tauchte wieder auf. Dieses Mal verlangte er nicht nach einem Passwort.

Als der Desktop geladen war, klickte Swann sich für ein paar Minuten durch die Ordner. Es dauerte nicht lange. „Hier sind keine Dateien drauf“, sagte er. „Keine Dokumente, keine Tabellen, keine Fotos, nichts.“

Luke blickte Гјber seine Schulter.

„Dieser Computer ist komplett leer. Die Festplatte ist da und funktioniert, aber es ist nichts auf ihr drauf. Ich glaube, unser Freund Mr. Li hat uns verarscht.“

„Kann man die gelöschten Daten wiederherstellen?“, fragte Luke.

Swann zuckte die Achseln. „Vielleicht, aber nicht hier. Vielleicht gab es auch von Anfang an keine Dateien hier drauf. Wir müssten die Festplatte ausbauen und mit zur NSA nehmen, um sicherzugehen.“

Luke sackte ein wenig zusammen. Normalerweise konnte er Menschen gut einschätzen. Aber vielleicht hatte Swann Recht. Vielleicht hatte Li sie wirklich angelogen. Seine Angst hatte echt genug gewirkt, aber vielleicht hatte er ihnen etwas vorgespielt. Aber warum sollte er das tun? Er musste doch wissen, dass Luke sofort zurückkommen würde.

„Was ist mit den CDs?“, fragte er. „Lasst uns die mal einlegen.“

Swann nahm die erste, auf der der Buchstabe A stand. Er hielt sie zwischen zwei Fingern, als ob sie ansteckend wäre. „Na gut, warum nicht?“

Er schob die CD in den Schlitz. Der Computer begann zu surren wie ein Flugzeug, das sich auf den Start vorbereitet. Ein Moment verging, dann Г¶ffnete sich ein Fenster. Es war eine Liste von Textdokumenten. Die Dateien waren in sequenziellen Mustern benannt, meistens bestehend aus einem Wort und einer Zahl. Es gab Dutzende und Aberdutzende von Dateien.

Das erste Wort war „flug“ und die Dateien gingen von „flug1“ bis „flug27“. Ein weiteres interessantes Wort auf der Liste war „strom“. Die zugehörigen Dokumente gingen von „strom1“ bis „strom9“. Weiter unten standen Dokumente „damm1“ bis „damm39“. Noch weiter unten gab es „bohr1“ bis „bohr19“. Außerdem „bahn1“ bis „bahn21“.

„Sollen wir mit ‚flug� anfangen?“, fragte Swann.

„Okay.“

Swann öffnete „flug1“. Die Worte am Anfang dienten wohl als eine Art Titel. Die Überschrift lautete Internationaler John F. Kennedy Flughafen, New York City.

„Oh-oh“, sagte Swann.

Es gab eine kurze Beschreibung des Flughafens, einschließlich des Eröffnungsdatums, seiner Koordinaten, der Anzahl der Flüge und Passagiere pro Jahr, der wichtigsten Fluggesellschaften, und mehr. Dann folgten mehrere Seiten mit Fotos der Terminals, ein New Yorker Stadtplan mit Angabe zur Lage des Flughafens, und dann mehrere Übersichtskarten der Terminals. Danach fanden sich technische Details – lange Listen mit Daten, eine Unmenge von Zahlen und Buchstaben. Swann wurde still.

„Houston, wir haben ein Problem“, sagte er schließlich.


*

Der schwarze Geländewagen raste durch die Stadt und fuhr auf die Autobahn zu.

Luke hing in der Warteschleife und versuchte, die Präsidentin zu erreichen. Im Hintergrund hörte er Ed und Swann an ihren eigenen Telefonen reden.

„Ich brauche sofort ein Team von Analysten, die sich mit der Sache befassen“, sagte Swann. „Das stimmt, sobald ich alles hochgeladen habe. Nein, es ist alles auf CD-ROM. Ich kann es jetzt noch nicht machen. Ich bin in einem Auto. Ja. Es gibt hier eine Basis außerhalb der Stadt, Naval Air Station Atlanta. Wir sind bald da. Ich nehme an, irgendjemand wird schon ein CD-Laufwerk haben. Warum glauben Sie, hat er es auf CD gebrannt? Damit niemand es hacken kann, deshalb. Es war in einer Schublade in einem verschlossenen Büro in einem verschlossenen Lagerhaus, von dem niemand wusste.“

Ed seinerseits war fast am schreien. „Sie müssen mich sofort mit dem FEMA-Camp im Chattahoochee National Forest verbinden“, sagte er. Er hielt einen Moment inne und hörte sich an, was am anderen Ende gesagt wurde.

„Ich verspreche Ihnen, es existiert. Versuchen Sie ‚Camp Enduring Freedom� oder ‚Camp Nirgendwo�. Ich war heute Morgen erst dort. Da ist ein Typ namens Pete Winn. Ich weiß nicht, was sein Titel ist. Vielleicht Lagerleiter. Schwimmlehrer, keine Ahnung. Ja, ich weiß, dass es keinen Eintrag für das Camp gibt. Ich muss Winn trotzdem sprechen. Er hat einen Gefangenen. Er wird wissen, um wen es geht. Wir haben bestätigte Informationen, die wir von diesem Gefangenen erhalten haben. Ja. Der Gefangene darf auf keinen Fall mehr aus den Augen gelassen werden. Wir sind schon auf dem Weg. Sagen Sie ihnen, dass sie den Gefangen für ein weiteres Verhör vorbereiten sollen. Er soll rund um die Uhr bewacht werden, mindestens zwei Personen plus Videoüberwachung. Es besteht akute Flucht- und Selbstmordgefahr.“

Ed machte wieder eine Pause. „Lady, finden Sie einfach das Lager! Fragen Sie Ihren Vorgesetzten nach der nötigen Sicherheitsfreigabe. Ich sage Ihnen doch, ich war selbst erst dort.“

Luke hörte immer noch der Warteschleife zu. Er war ein wenig von sich selbst überrascht. Sie hatten das FEMA-Camp verlassen, ohne zu überlegen, wie sie sie wieder kontaktieren konnten. Luke hatte einfach angenommen, dass er sie über normale Kanäle wieder erreichen würde. Er war selbst erstaunt, wie sehr er nach nur zwei Monaten eingerostet war. Hätte er den gleichen Fehler gemacht, wenn er die ganze Zeit über im Dienst gewesen wäre? Vermutlich nicht.

Nach einem weiteren Moment hörte er ein Klicken und die Verbindung war da. Er hörte Stimmen im Hintergrund.

„Kat Lopez“, sagte eine Stimme.

„Hi, Kat. Ich bin's, Luke Stone. Ich muss mit Susan sprechen.“

„Hi, Luke. Susan ist gerade in einer Besprechung. Sie können ihr gerne eine Nachricht hinterlassen.“

„Ich würde gerne direkt mit ihr sprechen, wenn es Ihnen nichts ausmacht.“

„Luke, ich bin ihre Stabschefin. Ich bin befugt, alles zu hören, was sie hören darf. Sie können mir zutrauen, dass ich die Nachricht korrekt übermittle.“

„Kat, wir haben keine Zeit für Streitereien.“

Kats Stimme war unnachgiebig. „Dann sollten wir vielleicht aufhören, uns darüber zu streiten, ob ich nun eine Nachricht annehmen kann oder nicht.“

Luke seufzte. So war es also. Erst wurde man einberufen, auf eine Mission geschickt und alles musste so schnell wie möglich passieren. Wenn man dann Informationen hatte, lief man vor eine Tür. Hinterlassen Sie bitte eine Nachricht nach dem Piepston.

„Okay, Kat, haben Sie einen Stift?“

„Sehr lustig“, sagte sie. Natürlich hatte sie ihr Tablet. Luke hatte sich nie ganz an die neueste Technologie gewöhnt. Er hatte immer noch die Tendenz, Notizen auf Papierfetzen zu kritzeln.

„Wir haben heute Morgen Li Quiangguo verhört. Aufgrund von Informationen, die er uns gab, fanden wir eine Liste mit dutzenden von Einrichtungen, die vermutlich Ziele für Terroranschläge sind. Unser Techniker glaubt, dass Cyberangriffe geplant sind, wie der, der auf den Black-Rock-Damm ausgeübt wurde. Jedes potenzielle Ziel hat ein eigenes Dokument. In diesen Dokumenten ist ihre Technologie beschrieben, Netzwerkdaten, Eckdaten der Serverstruktur, Verarbeitungsgeschwindigkeiten, sowie das Alter der Systeme und bekannte Schwachstellen.“

„Um was für Einrichtungen handelt es sich?“, fragte sie.

„Flughäfen. Kraftwerke. Ganze Stromnetze. Ölplattformen. Ölraffinerien. Dämme. Brücken. U-Bahn- und Eisenbahnsysteme. Denken Sie sich was aus, es steht auf der Liste.“

„Irgendein vermuteter Zeitrahmen?“

„Ja. Das letzte Dokument auf der Liste hieß ‚Stunde Null�. Wir haben es geöffnet. Das Datum war der 18. August, in zwei Tagen.“

Die Leitung war still.

Luke fuhr fort. „Wir sind auf dem Weg, um Li erneut zu befragen. Wir werden etwa 90 Minuten brauchen, um anzukommen. Wir haben die Listen auf CD. Unser Techniker, Swann, bleibt hier in Atlanta und überwacht das Hochladen der Daten, damit wir sie so schnell wie möglich an die Analysten vom FBI, der NSA und der CIA weiterleiten können. Sie sollten vielleicht in Betracht ziehen, Ihre Leute jetzt schon zu benachrichtigen, damit sie bereit sind, sobald die Daten verfügbar sind. Wir brauchen wahrscheinlich mindestens 100 Leute, die heute Nachmittag noch anfangen können. Wir müssen also behördenübergreifend arbeiten.“

„Sie sollten besser direkt mit Susan reden“, sagte Kat.

„Ja. Wenn ich Sie erinnern darf, habe ich das gleich gesagt, damit wir keine Zeit verschwenden.“

„Verstanden.“

Die Leitung war wieder tot.

Ed starrte Luke an. Seine Augen waren aufgerissen. Er sah aus, als hätte er Schmerzen. Als hätte er gerade eine unangenehme Überraschung erfahren – wie ein Kind, dem gerade gesagt worden war, dass es keine Kekse mehr gab.

Draußen schossen Gebäude und Wände voller Plakate vorbei. Inzwischen waren sie auf einer Autobahnbrücke.

„Ich habe den Hubschrauberpiloten an der Strippe. Weiter bin ich nicht gekommen.“

„Okay, was sagt er?“

„Er ist auf dem Hubschrauberlandeplatz hier in Atlanta und hat das FEMA-Lager am Apparat.“

„Okay, Ed, raus mit der Sprache. Was ist los?“

Ed zuckte mit den Schultern. Er kniff die Augen zusammen.

„Li Quiangguo ist tot.“




KAPITEL ACHT


12:30 Uhr.

Lagezentrum, Marine-Observatorium – Washington, DC



„Sollte ich dabei sein?“, fragte Michael Parowski.

Susan nickte. „Ich will dich dort haben.“

Sie befanden sich im Erdgeschoss des Neuen Weißen Hauses und liefen zügig auf das Lagezentrum zu. Kat Lopez folgte ihnen mit zwei Schritten Abstand. Zwei Männer des Secret Service folgten ihr wiederum mit zwei Schritten Abstand.

„Was wollen Sie den anderen sagen?“

Susan zuckte die Achseln. „Es ist nicht nötig, jemandem etwas zu sagen oder dich anzukündigen. Kurt Kimball schmeißt manchmal Leute raus, wenn wir Dinge besprechen, für die man eine besondere Sicherheitsfreigabe benötigt. Aber abgesehen davon sollte es niemanden stören, dass ein amtierender Abgeordneter dabei ist.“

„Wann werden wir es ankündigen?“

Susan schaute zurück. „Kat?“

„Wir haben einen vorläufigen Termin am Mittwoch um neun Uhr. Wir bereiten eine Pressekonferenz vor. Wenn das Wetter mitspielt, halten wir sie im Garten vor dem Haus ab. Wenn nicht, im Lagezentrum. Reicht Ihnen die Zeit, Herr Abgeordneter?“

„Zwei Tage? Sie wären überrascht, wie viel ich in zwei Tagen schaffe.“

Sie gingen durch die offenen DoppeltГјren in das Lagezentrum. Zwei weitere Geheimdienstler flankierten den Eingang. Der groГџe, kahle Kurt Kimball, Susans nationaler Sicherheitsberater, war bereits hier und stand vor einem groГџen, an der Wand montierten Flachbildschirm. Er sprach mit einem jungen Techniker und hielt eine Fernbedienung in der Hand.

Der Raum fГјllte sich langsam. Kurt hatte mehrere Mitarbeiter hier, sowie seine beiden Top-Geheimdienst-Analysten, die er beide von der RAND Corporation herbeordert hatte, sobald sie den Anruf erhalten hatten.

Trish Markle, die neue Außenministerin, saß Kurt gegenüber und sprach mit zweien ihrer jungen Mitarbeiter. Trish war bereits seit sechs Wochen im Amt. Als der Vorfall von Mount Weather sich ereignete, war sie Unterstaatssekretärin im Außenministierum gewesen. Susan hatte sie an die Spitze befördert. Trish war 47 Jahre alt. Sie hatte viele Jahre als Bürokratin verbracht – vielleicht zu viele. Bis jetzt hatte sie sich als Außenministerin noch nicht besonders hervorgehoben.

„Kurt“, sagte Susan mit lauter Stimme, um die Hintergrundgeräusche zu übertönen.

Er sah Susan in die Augen, dann kam er zu ihr. Er schüttelte Parowskis Hand. „Mike, schön Sie zu sehen. Ich habe gehört, dass Sie bald eine Ankündigung für uns haben.“

Parowski warf Susan einen Blick zu. „Interessant. Ich selbst habe es gerade erst erfahren.“

Kimball lächelte. „Gerüchte verbeiten sich hier schnell.“

„Kurt“, sagte Susan, „wenn du bereit bist, möchte ich anfangen. Ich komme mir vor, als hinken wir jetzt schon hinterher. Ich möchte auf den neuesten Stand gebracht werden.“

„Ich bin bereit. Es sind noch nicht alle da und die Analyse, die wir bis jetzt haben ist noch sehr, sehr vorläufig. Mark Swann hat die Daten gerade mal vor 20 Minuten auf einen sicheren Server geladen.“

„Das ist okay. Ich brauche nicht alle Details. Bringen Sie nur mich und alle anderen in diesem Raum auf den neuesten Stand, was die Bedrohung angeht.“

Susan setzte sich an die Spitze des langen Konferenztisches. Kat Lopez stand hinter ihr, Mike Parowski saß zu ihrer Linken. Für eine Sekunde erinnerte sich Susan daran, wie sie sich früher in diesem Raum gefühlt hatte. In den ersten Tagen, nach den Anschlägen vom 6. Juni und während der Ebola-Krise, hatte sie sich überfordert gefühlt. Alles um sie herum hatte eine fast surreale Qualität angenommen.

Sie war Hals über Kopf in diese Präsidentschaft hineingestolpert. Damals waren viel mehr Männer um sie herum als heute, und zahllose Militärs. Das hatte sie stets paranoid gemacht. Der ehemalige Präsident war damals frisch ermordet worden, und die Attentäter hatten teilweise zum Militär gehört. Die Männer im Raum hatten sie angestarrt wie Haie, die nur darauf warteten, ein Stück ihres zarten Fleisches herauszureißen.

Heute waren die Verhlältnisse anders. Sie war der Stürmer. Die Leute um sie herum gehörten zu ihrem Team – entweder hatte sie sie selbst ausgesucht, oder sie stammten aus der vorherigen Regierung. Die meisten hatte Kurt Kimball persönlich überprüft. Sie mochte das Team, das sie jetzt um sich hatte.

„Okay“, fing Kurt an. Er hob seine Hände in die Luft. „Okay, alle mal herhören. Wir haben viel zu tun, und wir sind noch nicht vollzählig, aber wir fangen jetzt an. Jeder, der hier nicht rein gehört, weiß, wo die Tür ist.“

Er sah Susan an. „Frau Präsidentin, danke, dass Sie gekommen sind.“

Sie machte eine ungeduldige Geste. Sie wollte, dass er zur Sache kam.

Hinter Kurt tauchte ein Foto vom Black-Rock Damm auf. Es war ein Riese aus grauem Beton, der bis in den Himmel zu ragen schien.

„Okay. Wir wissen inzwischen alle, dass sich gestern früh am Black-Rock Damm im Westen von North Carolina, in der Nähe des Great Smoky Mountains Nationalparks, die Schleusen geöffnet haben. Millionen von Kubiklitern Wasser wurden freigesetzt, bevor die Arbeiter den Damm wieder schließen konnten, und überfluteten ein Resort und mehrere Städte flussabwärts des Damms. Vorläufige Schätzungen gehen davon aus, dass tausend oder mehr Menschen bei der plötzlichen Überschwemmung starben, und es entstand ein Sachschaden von mehr als einer Milliarde Dollar. Das Black-Rock Resort, fünf Kilometer südlich des Damms, wurde komplett zerstört.“

Neben dem Bild des Staudamms erschien ein weiteres Foto. Auf ihm war ein großer asiatischer Mann in einem orangefarbenen Overall, seine Arme und Beine gefesselt, der gerade aus einem Geländewagen ausstieg. „Dies ist Li Quiangguo, 32 und vermutlich aus China. Wir haben keine Ahnung, ob das sein richtiger Name war. Wir vermuten, dass dem nicht so war. Außerdem vermuten wir, dass er ein chinesischer Geheimagent war.“

„War?“, fragte Susan leicht verwirrt. „Warum sprichst du in der Vergangenheit von ihm?“

Kimball sah sie an. Dann schaute er Kat Lopez an. „Okay, scheinbar hat Sie diese Information noch nicht erreicht. Li Quiangguo ist tot. Es gab einen Vorfall im FEMA-Camp, in dem Li festgehalten wurde. Luke Stone und sein Team war heute Morgen dort, um ihn auf Ihren Befehl hin zu befragen.“

Susan nickte. „Danke, ich weiß, wie meine Befehle lauteten.“

„Niemand ist sich ganz sicher, was passiert ist, weil wir noch nicht mit Stone gesprochen haben, aber anscheinend hat sich der Gefangene nach dem Verhör selbst getötet.“

„Großartig“, sagte Susan.

Susan dachte an Luke Stone und an ihre Idee, ihn für diese Operation zurückzuholen. Sie fragte sich einen Moment lang, ob es vielleicht besser gewesen wäre, ihn in Ruhe zu lassen. „Wie konnte das passieren?“

Kimball zuckte die Achseln. „Gefangene werden bei aggressiven Verhören ängstlich. Stone hat dem Lagerleiter erzählt, dass Li kooperativ war und sie einer Spur nachgehen würden, die sie von ihm erhalten hatten. Anstatt Li dreckig wie er war herumsitzen zu lassen, hat der Direktor ihm erlaubt, sich heiß zu duschen. Das ist nicht unüblich. Wenn ein Gefangener kooperiert, belohnt man ihn im Gegenzug. Das macht es wahrscheinlicher, dass er kooperativ bleibt.“

„Nur haben sie Li erlaubt, alleine in die Dusche zu gehen. Sie haben lediglich zwei Wachen außerhalb der Duschen platziert. Außerdem haben sie seine Hand- und Fußfesseln entfernt. Es stellte sich heraus, dass er eine starke Dosis Zyanid in einer Kapsel in einem falschen Zahn aufbewahrt hatte. Als das Wasser zu fließen begann, hat Li den Zahn herausgenommen und die Kapsel geschluckt. Innerhalb von eineinhalb Minuten fingen die Anfälle an. Innerhalb von vier Minuten war er tot.“

„Wurde er gefoltert?“, fragte Susan mit Nachdruck.

„Es gab keine Spuren an seinem Körper, außer denen, die auf geringen Widerstand bei der Verhaftung hinweisen.“

„Das war nicht meine Frage“, entgegnete Susan.

Kurt schüttelte den Kopf. „Ich denke, Sie sollten Luke Stone selbst fragen, ob das Subjekt gefoltert wurde.“

Ein leises Raunen ging durch den Raum.

„Was haben wir noch?“, fragte Susan.

Kimball wechselte auf eine andere Folie. Sie zeigte ein Bild von einem Lagerhaus aus rotem Backstein das entlang einer Industriestraße lag. „Li Quiangguo gab Stone und seinem Team Informationen, die sie zu diesem Lagerhaus führten. In dem Lagerhaus fanden sie Beweise für das Import-Export Geschäft, das Li in den Vereinigten Staaten als Tarnung diente. Sie fanden außerdem Beweise dafür, dass Li Informationen für potentielle Cyberangriffziele zusammenstellte. Auf dieser Liste befinden sich umfangreiche Daten über jedes einzelne Ziel. Sie wurde auf drei CD-ROMs in einer verschlossenen Schublade im Büro des Lagers aufbewahrt. So weit wir wissen, ist das der einzige Ort, an dem diese Informationen aufbewahrt wurden.“

„CD-ROM?“, fragte Mike Parowski erstaunt. „Warum sollte er die Informationen so aufbewahren? Das ist doch schon seit 20 Jahren veraltet.“

Susan war ein wenig Гјberrascht, dass Mike sich eingeschaltet hatte. Sie hatte gewollt, dass er in die aktuellen Geschehnisse eingeweiht war, aber sie hatte auch erwartet, dass er sich zurГјckhalten wГјrde.

Kimball zeigte auf ihn. „Das ist die Preisfrage. Wir vermuten im Moment, dass Li seine Dateien auf CD aufbewahrt hat, so dass die amerikanische Regierung keine Möglichkeit hatte, an die Daten zu kommen. Wir können nur analysieren, was sich auf Computersystemen befindet, die mit dem Internet verbunden sind. Informationen, die auf irgendwelchen CDs in einer Schublade liegen, sind für uns unzugänglich.“

Parowski blieb beharrlich. „Irgendwie muss er diese Informationen doch an seine Kontakte, die sich vermutlich in China befinden, übermittelt haben?“

„Er war ein Importeur“, erwiderte Kimball. „Ich bin sicher, er wusste, dass wir fast den gesamten Webverkehr abfangen können, der aus den USA stammt, in die USA kommt oder durch die USA geht. Er wusste wahrscheinlich auch, dass die eigentliche Aufgabe von Behörden wie der NSA darin besteht, den Webverkehr von Ausländern zu analysieren, insbesondere den fragwürdigen Verkehr, der mit Ländern wie China in Zusammenhang steht. Sein Scheingeschäft war eine gute Möglichkeit, dies zu umgehen.“




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